Cronofobia

[…] Rizzi inszeniert ihre gemeinsame Realitätsflucht durch die kleinen, alltäglichen Dinge. Es geht etwa um die Art, eine Zigarette zu halten, oder den Geruch eines bestimmten Parfums am frisch geduschten Körper.

[…] Es beginnt ein komplexes Spiel aus Projektion und Reenactment, bei dem die Täuschung von der Realität plötzlich nicht mehr zu unterscheiden ist.

Text: Silvia Posavec | Audio/Video: Ruth Baettig

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Text: Silvia Posavec | Reading: Denise Hasler | Concept & Editing : Ruth Baettig

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Das Paradies kennt keine Zeit

Nachtgestalten sind sie beide; Michael und Anna – die Hauptfiguren im Erstlingswerk Cronofobia des Tessiner Regisseurs Francesco Rizzi. Vielleicht bevorzugen sie die Dunkelheit, da in der Nacht die Zeit weniger spürbar vergeht und sie ihre Schatten verschluckt. Bis die ersten Textzeilen im Film gesprochen werden, haben wir bereits einen Einblick in Michaels (Vinicio Marchioni) Alltag bekommen. Er geht schwimmen in einem menschenleeren Bad, fährt einsam mit seinem abgedunkelten Kombi quer durch die Schweiz und arbeitet sporadisch als Mystery Shopper. Erst als er die Rolle des gut betuchten, charmanten Kunden in einem teuren Uhrengeschäft einnimmt, findet er zu Worten. Andere scheint er überzeugen zu können, sich selbst aber nicht. Er hadert sichtlich, bleibt stumm. Michaels Vergangenheit wirft dunkle Schatten bis in seine Gegenwart. Francesco Rizzi tariert sehr geschickt aus, was unausgesprochen oder nur angedeutet bleibt. Wenn die traumatischen Erinnerungen in Form von kurzen, Unheil verkündenden Flashbacks auftauchen, lässt der Regisseur Bild- und Tonebene entgleiten. Fast unbemerkt schleicht sich ein schrilles Piepen ein. Michael will sich von den immer wieder aufkommenden Bildern befreien, aus diesem Grund kehrt er jeden Abend zu Annas Haustüre zurück. Sie kennen sich nicht, doch Michael schreibt Anna einen Brief, den er immer griffbereit in seiner Jackentasche trägt.

Anna (Sabine Timoteo) lernen wir über Michaels beobachtenden Blick kennen. Wir schauen ihm über die Schulter, wenn er ihr Haus aus seiner Fahrerkabine heraus observiert. Beobachten den Beobachter, wenn er Anna zur Arbeit folgt oder sie bei ihren nächtlichen Joggingtouren heimlich begleitet. Sein Interesse an ihr wirkt nicht bedrohlich. Rizzi lässt die Beschattung streckenweise schon fast komisch wirken und doch weckt er beim Zuschauer auch Unbehagen. Bei Anna bleibt Michaels Anwesenheit nicht unbemerkt. In einem Moment, in dem der Druck ihres Umfeldes auf sie zu gross wird, flüchtet sie sich vor ihrer Realität auf seinen Beifahrersitz und fährt mit ihm davon. Von da an entwickelt sich eine Beziehung zwischen ihnen, die ihren eigenen Regeln folgt. Anna hat jemanden in ihrem Leben verloren, und um dessen Nähe wieder zu spüren, wäre sie bereit, alles zu tun. Ihr Verlust bietet Michael eine Gelegenheit und in kleinen Übertritten und Schritten nähert er sich seiner neuen Rolle. Für Anna wird Michael zu einer Person, zu der sie eine Beziehung aufbauen kann. Rizzi inszeniert ihre gemeinsame Realitätsflucht durch die kleinen, alltäglichen Dinge. Es geht etwa um die Art, eine Zigarette zu halten, oder den Geruch eines bestimmten Parfums am frisch geduschten Körper. Dies sind die Ankerpunkte in Annas Erinnerung, die es ihr ermöglichen, den verlorenen Zustand paradiesischer Zweisamkeit für einen kurzen Moment zurückzuholen. Es beginnt ein komplexes Spiel aus Projektion und Reenactment, bei dem die Täuschung von der Realität plötzlich nicht mehr zu unterscheiden ist. Diese Dynamik verstärkt sich, nachdem Anna über die wahren Gründe für Michaels Interesse an ihr aufgeklärt wird. Der Täuscher wird zum Getäuschten, wenn plötzlich nicht mehr klar ist, wessen Rolle ihm zugeschrieben wird. Ihre Beziehung wird zu einem komplizierten Ablasshandel mit dem Ziel, durch den anderen den gegenwärtigen Zustand ein für alle Mal zu überwinden.

Rizzi lässt in seinem Psychodrama zwei komplexe Hauptfiguren schicksalhaft aufeinandertreffen. Sie reflektieren ihre Situationen auch auf literarischer Ebene. Michael hinterfragt sich indirekt, indem er auf seinen Reisen ein Krimi-Hörbuch anhört. Anna hängt der Vergangenheit nach und paraphrasiert Charles Bukowskis Gedicht «Nirvana», in der Hoffnung, sie könnten gemeinsam eine Antwort auf ihre Rastlosigkeit finden. Ihr Aufeinandertreffen lässt sie verschiedene Themen verhandeln; es geht um Identität, Abhängigkeit und Rollenzuschreibungen in Beziehungen. Das übergeordnete Motiv des Films ist aber die Schuld. Wer macht sich wie schuldig und wo liegen die Grenzen der Sühne? Auch auf symbolischer Ebene versucht der Regisseur dem gerecht zu werden, indem er das Motiv des Wassers – das Reinwaschen von der Schuld – wiederholt einbaut. Am differenziertesten ist Rizzi aber da, wo seine Arbeit auf eigenen Erfahrungen fusst. Er selbst hat als Testkäufer gearbeitet und entwickelt seinen Plot von einem ihn nicht unbekannten Standpunkt aus. Das macht Michael zu einer komplexen, aber in ihrem Denken und Handeln nachvollziehbaren Figur. Annas Figur bleibt hingegen bis zum Ende ambivalent. Rizzi gewährt ihr gleich mehrere Anläufe, Michael vom Gehen zurückzuhalten. Die Szene ist so montiert, als würden sich mehrere Versionen dieser letzten Interaktion der zwei Protagonisten aneinanderreihen. Wenn der Film bis dahin seine Spannung aufrechterhalten hat, indem Rizzi immer nur das Nötigste zeigte, so verliert diese Szene im Gegensatz an Kraft, da er zu viel anbietet. Doch tut es der Spannung keinen grossen Abbruch, Cronofobia ist eine symbolisch aufgeladene und durch die vielen Zeitsprünge ungewöhnlich dichte Erzählung.

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Cronofobia | Film | Francesco Rizzi | CH 2018 | 94’ | Zurich Film Festival 2018, Solothurner Filmtage 2019

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First published: March 21, 2019