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Spagat
Screenings in Swiss cinema theatres
Ihre Affäre gehört genauso zu Marinas Alltag wie der Kuchenverkauf nach dem Tanzauftritt ihrer Tochter Selma an der Schule, an der sie gleichzeitig als Lehrerin tätig ist. Regisseur Christian Johannes Koch stellt in seinem Debütfilm Spagat gleich mehrere Lebenssituationen vor, die in unterschiedlichen Spannungsverhältnissen stehen. Doch zu Beginn gibt sich das Leben in der schweizerischen Provinz weder ausserordentlich idyllisch noch brisanter, als es den Tatsachen entsprechen könnte. Als Oberstufenlehrerin geht Marina routiniert ihrer Arbeit nach und ist Selma eine aufmerksame Mutter. Ihr Partner Jörg ist ein vorbildlicher Ehemann und Vater, und zu Marinas Geburtstag versammeln sich Freunde und Kollegen zu einem rauschenden Fest. Und doch geht Marina mit Artem, dem Vater ihrer Schülerin Ulyana, fremd. Koch unternimmt dazu keine Erklärungsversuche oder gibt Entschuldigungen, womit er gekonnt einer Romantisierung seines Themas entgeht. Ebenso zeigt er sukzessive das dünne Eis bürgerlicher Moralvorstellungen auf.
Artem ist ihr «Geheimnis» und hat selbst ein ungleich grösseres zu verbergen: Er und seine Tochter sind ohne Aufenthaltsbewilligung aus der Ukraine in die Schweiz gekommen. Nur der kleinste Zwischenfall könnte dazu führen, dass sie den Behörden auffallen und ausgewiesen werden. Dessen ist sich Artem sehr bewusst, sein Alltag ist hart. Er ist für die schmutzige Arbeit im nahe gelegenen Tagebau zuständig und von der Güte seiner Arbeitgeber abhängig, die selbst nach einem schweren Arbeitsunfall keine Verantwortung für ihn übernehmen wollen. Ulyana hingegen wünscht sich nichts mehr als ein normales Teenagerleben. Sie ist die begabteste Turnerin in ihrem Verein und darf nicht am grossen Turnier teilnehmen, um nicht zufällig aufzufallen.
Im Nebeneinander der Lebensrealitäten der beiden Familien liegt die Kraft dieses Films, in dem Martina zum fatalen Bindeglied wird, das letztlich beide Welten zerplatzen lässt. Koch konstruiert eine fatale Kettenreaktion von Ereignissen. Dazu reicht dieser eine (verständliche?) Fehler der jungen Teenagerin, die mit sehr viel Vehemenz eine «normale» Jugend einfordert. Den Spannungsbogen hält Koch bis zu Schluss, indem er elliptisch erzählt. Visuell ist Spagat zurückhaltend, manchmal leider etwas konventionell. Doch legt der Film deshalb umso mehr Gewicht auf die schauspielerischen Leistungen des Ensembles, das als Gesamtes sehr gut harmoniert. Für die Rolle des ukrainischen Vaters kann der Regisseur den in Russland sehr berühmten Schauspieler Alexei Serebrjakow verpflichten, der für seine Rolle erstmals Deutsch spricht. Spagat schafft es, grosse Themen herunterzubrechen auf eine dem Publikum besser zugängliche Ebene. Es geht um die Folgen von illegaler Arbeitsmigration und Ungleichheit in der Schweiz, die neben einer satten Wohlstandsgesellschaft existieren.
Spagat | Film | Christian Johannes Koch | CH 2020 | 110’
Loulou
Unscharf sind seine Bilder am Anfang häufig. So, wie wenn einem Tränen in die Augen laufen und der Fokus andauernd von den eigenen Emotionen hinfortgetragen wird. Der junge Erwachsene hinter und gelegentlich auch vor der Kamera heisst Nathan Hofstetter, Loulou ist ein filmisches Dokument, das vom Umgang mit seiner psychischen Erkrankung zeugt. Vier Jahre lang begleitete er seine Entwicklung. Durch die Kamera wird er zum einäugigen «Zyklopen» und findet mit der Zeit einen Weg, sich der paranoiden Schizophrenie zu stellen. Immer wieder tastet seine Linse die Umgebung nach Halt ab, Nathans Kamera sucht den Moment, in dem sich das Bild – als Darstellung des Realen – klar zeigt, doch verfehlt ihn oftmals. Daraus ergibt sich ein intimes Wechselspiel halb bewusster Zwischenräume.
«Die Verrückten sind die unglücklichen Entdecker des Unsichtbaren» ist ein Zitat, das sich der Regisseur aneignet. Doch stellt er seinen visuellen Exkursionen ins «Unsichtbare» sehr reale Menschen gegenüber. Nathan befragt seine Freunde, auch Caroline, Manu und Lisenn ringen mit sich selbst. In den Gesprächen erwähnen sie Préfargier, eine psychiatrische Klinik, die unter ihnen keiner weiteren Erklärung bedarf. Sie erzählen von ihren Wahnvorstellungen und manischen Phasen oder analysieren bis ins kleinste Detail den Unterschied, den sie zwischen der eigenen Selbstwahrnehmung und der der anderen sehen. Für Nathan sind die Erzählungen seiner Kollegen nicht nur eine Sammlung von Schicksalen, sondern sie dienen ihm auch als Abgleich mit der eigenen Erfahrung.
Im Grunde geht es um die Suche nach der richtigen Distanz. Je näher Nathan sich im Prozess selber kommt, umso häufiger stellt er sich und seine Nächsten vor die Kamera. Er richtet seinen Fokus liebevoll auf seine Mutter, seine Freundin, auf Vater und Grossvater. Die Begegnungen scheinen voller Belanglosigkeiten, doch ist es eben die Normalität, die eine Errungenschaft für ihn darstellt – das Alltägliche, das die Bedeutung der Beziehungen erst ausmacht. Loulou ist eine filmische Versöhnung mit sich selbst. Es geht um einen jungen Mann, der lernt, das Schicksal, Trauer und Liebe zuzulassen, und das auf eine unvermittelte Weise, die erst durch die anfängliche totale Entgrenzung entstehen kann. Ein radikaler Selbstversuch – seltsam schön.
Loulou | Film | Nathan Hofstetter | CH 2019 | 70’ | Visions du Réel 2019 | Solothurner Filmtage 2020
Öndög
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Auf einer nächtlichen Patrouillenfahrt entblösst das Scheinwerferlicht des Polizeiwagens plötzlich mitten in der mongolischen Steppe den leblosen Körper einer nackten Frau. Es könnte der Anfang eines absurden Krimis, eines Dramas oder auch einer derben Komödie sein, die der chinesische Regisseur Quan’an Wang in seinem Spielfilm Öndög (Mongolisch für «das Ei») in die menschenleere Landschaft setzt. Doch seine Erzählung bleibt erst einmal offen, sein Blick auf das Geschehen distanziert. Bis weit in die ersten Szene des Filmes hinein verbleibt Wang in der Supertotalen, ganz so, als suche auch das Objektiv noch seinen Fokus – die Erzählung ihre Protagonist*innen. In der Zwischenzeit erstrahlt bei Tagesanbruch die urzeitliche goldene Graslandschaft, über die einst Dinosaurier zogen, auf der Leinwand. Es eröffnet sich ein weiter, auf die Ewigkeit ausgelegter Raum. Auf dieser Bühne wirkt das Handeln der zu kleinen Figuren reduzierten Menschen nebensächlich, fast unbedeutend.
Von Weitem beobachten wir die Beamten, die unbeholfen versuchen, den Tatort zu sichern, und schliesslich entscheiden, den jüngsten Rekruten am Fundort zurückzulassen, bis sie am nächsten Tag mit dem Leichenwagen zurückkehren. Eine Hirtin, die – unter dem Namen «Dinosaurierin» bekannt – als Einzige in der Gegend ansässig ist, soll den 18-Jährigen mit ihrem Gewehr dabei unterstützen. Unaufgeregt reitet sie auf ihrem Kamel in das Bild, Wang führt seine Hauptprotagonistin sehr nüchtern und beiläufig ein. Das ungleiche Paar findet sich wenig später gemeinsam am Lagerfeuer wieder. Er ist unbewaffnet und für seine Sicherheit auf sie angewiesen, denn in der Dunkelheit kehrt die hungrige Wölfin zum Leichnam zurück. Die Kälte der Nacht lässt sie zusammenrücken; sie essen, reden und lachen, trinken und schlafen schliesslich miteinander. Noch während des unbeholfenen und doch eigentümlich intimen Aktes lädt die Jägerin hinter dem Rücken des jungen Polizisten ihr Gewehr, springt gleich danach auf und erlegt mit einem Schuss die sich an die Tote heranpirschende Wölfin.
Am nächsten Morgen trennen sich ihre Wege für immer, und doch gehen beide aus ihrer unerwarteten Begegnung verändert hervor. In seiner Männlichkeit bestärkt, kehrt der junge Polizist in den Kreis seiner Kollegen zurück und fasst den Mut, einer jungen Kollegin Avancen zu machen. Aus der zaghaften Annäherung entwickelt sich eine beflügelte erste Liebe unter sternenklarem Himmel. Die Jägerin hingegen kehrt in ihre Abgeschiedenheit zurück, doch soll auch sie fortan nicht mehr alleine bleiben. Die Dinosaurierin ist schwanger und fasst es, berührend arglos, als Fügung des Schicksals auf. Dieser Umstand hilft ihr, wieder Vertrauen zu ihrem einzigen menschlichen Weggefährten zu fassen, dessen Anwesenheit zur blossen Komplizenschaft in schwierigen Lebenslagen verkommen war. Regisseur Quan’an Wang machte sich, ohne ein Drehbuch geschrieben zu haben, an die Arbeiten zu seinem Film. Als Ausgangspunkt diente ihm jedoch ein wahrer Polizeivorfall, der sich in einer abgelegenen chinesischen Provinz abgespielt haben soll. Aus der Vorlage spinnt er eine Erzählung, die sich den üblichen Genrebezeichnungen entzieht, vielmehr schafft er daraus eine vielschichtige Sage. Öndög ist frei von überbordender Moral und folkloristisch verklärten Vorstellungen von Ursprünglichkeit. Quan’an Wang zeigt Menschen und Tiere als gleichwertige Teil des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod, der bis in die Urzeit zurückreicht. Das fossile Dinosaurier-Ei, das die Frau von ihrem Weggefährten geschenkt bekommt, stellt somit keinen traurigen Abgesang auf das Ende einer Art dar, sondern bestätigt den eigenwilligen magischen Wandel, den das Leben auf der Erde seit jeher vollzieht.
Öndög | Film | Quan’an Wang | MNG 2019 | 100’ | Black Movie Geneva 2020
Madame
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Madame – Im Zeichen der Liebe zu sich selbst
Zu Beginn des Films, lackiert er seine Nägel schwarz – aus Protest, Trauer oder blosser Exzentrik? Er, das ist Stéphane Riethauser, seine Hände und seine Stimme aus dem Off leiten die Blicke der Betrachtenden im Dokumentarfilm Madame durch das Foto- und Videoarchiv seiner Familie. Stéphane hat gleich zwei bewegende Lebensgeschichten zu erzählen: die seiner Grossmutter Caroline, einer Matriarchin wider Willen, und die seines eigenen Coming-out in einer Familie mit grossen Erwartungen an den Erstgeborenen. Sicherlich ist es Glück, dass Riethauser auf wertvolles Bildmaterial, das in der Zeit weit zurückführt, zugreifen kann, und doch ist es seine geschickte Montage, die alles zu einem dichten und nahbaren Familienporträt werden lässt. Unkommentiert zeigte die Collage aus Familienfotos, Hochzeits-, Urlaubs-, Geburtstags- und Alltagsaufnahmen lediglich ein verklärt-harmonisches Bild der privilegierten Genfer Bourgeoisie. Doch dem ist nicht so, geleitet von Stéphane Riethauser als präsenten Erzähler beginnt eine mal schonungslos ehrliche, mal überspitzt ironisierte und doch immer um Selbstreflexion bemühte Reise in die Familiengeschichte der Riethausers.
Mit einer Mischung aus Bewunderung und Ehrfurcht nähert er sich dem Leben seiner Grossmutter. Als Tochter italienischer Einwanderer wurde Caroline als junges Mädchen zur Heirat gezwungen. Später musste sie, die geschiedene Mutter eines Kindes, hart für ihr Auskommen und schliesslich für den Erfolg arbeiten. Dieser wurde ihr von der damaligen Gesellschaft mit Missgunst und Spott vergolten. Der Reiz von Riethausers dokumentarischem Experiment liegt im Bruch zwischen Bild- und Tonebene. Erst durch seine Kommentare entstehen neue Kontexte – eine Erzählung, die sich der biografischen Chronologie entzieht und beide Lebensläufe geschickt miteinander verbindet. So kontrastiert er etwa die erschütternde Erzählung seiner Grossmutter von der schwierigen Zeit der Geburt ihres ersten Kindes, als sie alleingelassen und ohne eine gesicherte Existenz dastand, mit Videobildern aus Stéphanes eigener wohlbehüteten frühen Kindheit. Gleich darauf sehen wir den etwa dreijährigen Stéphane auf einem hübschen Pferdchen eines Kinderkarussells in warmem Herbstlicht schaukeln, musikalisch untermalt mit einer von Verdis erhabenen Opern.
Sehr viel härter geht Stéphane Riethauser mit sich selbst ins Gericht. Er zeigt einerseits den Erwartungsdruck seiner Familie und der Gesellschaft. Andererseits offenbart er die aus seiner jugendlichen inneren Zerrissenheit resultierenden misogynen und homophoben Gedanken. Riethauser gibt sogar Einblick in seine Tagebücher, die er als junger Erwachsener schrieb. Durch sie wird das Zwiegespräch, das er mit sich selbst über Jahre hinweg führte, am eindrücklichen sichtbar. Grossmutter und Enkelkind haben in ihrem Leben sehr unterschiedliche Widerstände überwinden müssen. Was sie verbindet, ist, dass sie gegen die Erwartungen ihrer Familien handeln mussten, um sich selbst treu zu bleiben. Und so besetzt letztlich auch die Beziehung zwischen ihnen die Hauptrolle im Film. Ihre Beziehung und ihre Freundschaft, ihre Gespräche und das Ausbleiben dieser, bis das Unaussprechliche schliesslich zutage kommt. Madame ist ein bewegendes Familienporträt, ein mutiges Zeitdokument und ein pointierter Appell an die Akzeptanz. Doch allem voran wird es nie zur selbstverliebten Nabelschau, sondern erzählt zwei Lebensgeschichten im Zeichen der liebevolle Suche nach sich selbst.
Madame | Film | Stéphane Riethauser | CH 2019 | 94’ | Visions du Réel 2019, Locarno Film Festival 2019
Ivana the Terrible
«Deine Probleme sind hier», sagt der Vater und zeigt seiner Tochter Ivana den Vogel. «Ivana the Terrible» ist zu ihrer Familie in die serbische Kleinstadt Kladovo heimgekehrt und überfordert sie mit ihrer gereizten, hypochondrischen Art. Die Konflikte treten plötzlich auf, eskalieren schnell, doch legen sie sich gleich wieder. Die Regisseurin Ivana Mladenović verarbeitet in ihrem semiautobigrafischen Spielfilm ihre eigene Lebenssituation und lässt dafür ihre eigene Familie vor die Kamera treten. Nur anhand eines losen Skripts wurden gewisse reale Situationen in eine Fiktion gesponnen, um dann von der Familie halb improvisiert gespielt zu werden. Alles, was in dem Film passiert, ist so oder hätte so geschehen können. Im Mittelpunkt steht zweifelsohne sie selbst: Ivana Mladenović ist Autorin, Regisseurin und Schauspielerin zugleich. Durch ihre Erscheinung befördert, umgibt die Figur ein trügerisch mädchenhafter Charme. Meist trägt sie Turnschuhe und sehr kurze Hosen, darüber ein lockeres T-Shirt und einen Eastpack-Rucksack in Weinrot. Ihre Haare fallen brav über die Schultern. Mit grossen, unsicheren Augen macht sie sich auf, um in die von ihr entfremdete Heimat einzufallen und Unruhe zu stiften.
Wir folgen also dieser Figur, die sich zurück in ihrem Elternhaus eine Auszeit von ihrem Bohème-Leben in der Grossstadt gönnt. Wir beobachten eben die Situation, in der sich die Regisseurin in dem Moment selbst befindet. So wird der Film zu einer Abfolge von Momenten. «Geh zurück nach Bukarest», sagt ihr die Grossmutter. «Was wäre, wenn ich einen 19-Jährigen daten würde?», fragt sie unvermittelt ihren Bruder. Von dem Haus, das die Eltern von ihrem Geld bauen, will Ivana nichts wissen. Wohl aber von ihren Freunden, die sie aus der Metropole besuchen kommen. Gemeinsam schwanken sie fortan zwischen juvenilem Geltungsbedürfnis und ablehnender Gleichgültigkeit. Ihre Zerstreuung stösst auf Unverständnis, ihre Ungeduld und das Nichtstun befördern eine Rastlosigkeit, die schliesslich in einem halb ernst gemeinten Engagement für das vom Bürgermeister initiierte Volksfest resultiert, bei dem Ivana als erste Ehrenbürgerin in einer ulkigen Zeremonie geehrt wird. Teilweise verliert sich im Film der rote Faden und man wünscht sich ein bisschen Ruhe oder zumindest eine gemeinsame Perspektive, durch die man den Rastlosen mit mehr Empathie begegnen könnte. Doch es soll nicht sein, und hier zeigt sich sowohl eine Hürde als auch eine dokumentarische Stärke des Films. Ivana the Terrible ist eine therapeutische Nabelschau, eine schamlose Selbstinszenierung und ein enttarnendes Porträt einer Generation, die sich in der Selbstverwirklichung verliert.
Ivana the Terrible | Film | Ivana Mladenović | ROM-SRB 2019 | 86’ | Locarno Film Festival 2019
Cineasti del Presente Special Jury Prize at Locarno Film Festival 2019
Men Don't Cry
Zwanzig Jahre nach Ende der Balkankriege kommen Kriegsveteranen aus verfeindeten Lagern in einem abgelegenen Berghotel in Bosnien-Herzegowina zusammen. Unter Anleitung eines Psychologen und mithilfe eines finanziellen Anreizes für die Teilnehmer sollen sie sich ihren traumatischen Kriegserfahrungen stellen. Die Ausgangslage des Films Men Don’t Cry von Alen Drljević weist bereits auf ein schwieriges, wenn nicht sogar unmögliches Unterfangen hin, denn für viele in der Region liegen die Konflikte der 90er-Jahre auch heute noch keineswegs in der Vergangenheit. Aber Drljević weiss, worauf er sich einlässt. Er selbst zog damals in den Krieg und vermag es, den Zuschauer behutsam, aber zielstrebig an die Gefühlswelt der Männer heranzuführen. Er zeigt die Spannungen, die zwischen den Ethnien existieren, verweist aber auch auf die innerhalb der jeweiligen Gruppen. Serben, Kroaten und Muslime; sie alle kranken nach wie vor an dem, was sie sich gegenseitig und damit auch sich selbst angetan haben. Was die Männergruppe verbindet, ist ihre bittere Ernüchterung. Sie erinnern sich daran, wieso sie in den Krieg gezogen sind, nun sehen sie sich mit der Frage konfrontiert, wofür sie es getan haben.
Drljević hält den Finger in die Wunde, deckt die neuralgischen Punkte auf. Wie in einem Kammerspiel entwickelt sich, aus der Logik der einzelnen Kriegsbiografien, eine unheilvolle Eigendynamik, bis sich der Konflikt schliesslich in der Abgeschiedenheit der Berge ein weiteres Mal zu reproduzieren scheint. Men Don’t Cry gleicht einer Versuchsanordnung, hinter der die Hoffnung steht, durch ihre Umsetzung den Krieg ein für alle Mal überwinden zu können. Diesen Willen, der nicht einfach nur einem Drehbuch entspringt, sieht man den Schauspielern an. Vor allem Boris Isaković (Miki), Leon Lučev (Valentin) und Emir Hadžihafizbegović (Merim) – alle samt in der Region bekannte Schauspieler – verkörpern ihre Charaktere in jedem Moment mit jeder Faser ihres Körpers, ohne dabei pathetisch zu werden. Ihrem Schauspiel liegt eine Dringlichkeit inne, die einen über den Film hinaus berührt und begleitet.
Der einzige Wermutstropfen ist die Figur des Therapeuten. Er erscheint zu makellos, wie aus einer anderen Welt, der Gruppe gegenübergestellt, was die zu Therapierenden tendenziell noch mehr als defizitäre Menschen erscheinen lässt. Anstatt auch den slowenischen Therapeuten – als privilegierten, unversehrten und vermeintlich Aussenstehenden – in den Konflikt zu involvieren, verkommt seine Figur zur reibungsfreien Fläche. Er ist die fiktive, unnahbare und richtende Instanz, die den anderen den Spiegel vor Augen hält, ohne sich selbst in den Blick zu nehmen. Men Don’t Cry bietet keine einfachen Antworten, sondern hält fest, welche Fragen nach wie vor unausgesprochen bleiben. Damit begibt sich Alen Drljevićs Film an eine Front, die bereits Danis Tanović in seinem Film No Man’s Land (2001) thematisiert hat. Drljević will zeigen, dass die alten, immer gleichen Grabenkämpfe nach wie vor gefochten werden. Sie haben sich lediglich in die Körper und Seelen der Menschen verlagert.
Men Don’t Cry | Film | Alen Drljević | BA-SI-HR-DE 2017 | 100’
Screenings in May 2019 at Kino Xenix Zürich
Les dames
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Unsichtbare Frauen
Die Damen sind über sechzig. Sie haben ihr Leben in der Schweiz verbracht, haben geheiratet, Kinder die Welt gesetzt und gearbeitet. Sie haben ihre Beziehungen gelebt und hatten sicherlich eine Vorstellung davon, wie es im Alter wohl zu zweit sein wird – doch nun sind sie alleine. Der Film Les dames von Stéphanie Chuat und Véronique Reymond stellt diese Vorstellungen der Realität gegenüber. Er setzt zu einem Zeitpunkt im Leben von fünf reifen Frauen ein, an dem sie versuchen, sich neu zu orientieren und mutig anfangen, Forderungen zu stellen; Forderungen an sich und an ihre Zukunft. So bekannt einem die bisherigen Lebenswege von Marion, Odile, Pierrette, Noëlle und Carmen vorkommen, so unterschiedlich sind nun ihre Strategien, mit ihren aktuellen Situationen umzugehen. Während die einen rausgehen, neue Hobbys und Gleichgesinnte suchen, ziehen sich andere zurück, versuchen ihre Erinnerungen gemeinsam mit dem Hausrat zu ordnen oder stellen sich endlich ihren ältesten Ängsten. Um ihre fünf Protagonistinnen zu finden, haben die Regisseurinnen einen öffentlichen Aufruf gestartet und bekamen über hundert Zuschriften. Die grosse Resonanz überraschte und bestärkte sie darin, ihr filmisches Vorhaben voranzutreiben. Denn wenn etwas klar zu sein schien, dann die Tatsache, dass Redebedarf besteht.
Les dames ist ein solider Dokumentarfilm mit einem mutigen Thema. In der Montage riskieren Chuat und Reymond nicht viel, sondern setzen auf bewährte Methoden. Es gehört zu ihrer sensiblen Art, mit dem Thema umzugehen, auf technische Spielereien zu verzichten. Auch die Kameraführung ist ruhig und zurückhaltend. Die Regisseurinnen entschieden sich, mit nur einem Kameramann (Joseph Areddy) die Leben der Damen zu stürmen. Es zahlte sich aus, denn zwischen dem Team und den Protagonistinnen entstand ein Vertrauensverhältnis, das sich auf den Film überträgt und ihn zu einem der grossen Leinwand würdigen Werk macht. In Zeiten überhitzter Gender-Debatten setzt Les dames einen gelungenen Kontrapunkt. Chuat und Reymond schaffen einen Rahmen, der es den Frauen ermöglicht, unaufgeregt und aufrichtig aus ihrem Leben zu erzählen, ohne dabei ihre Probleme kleinzureden. Bedacht und sensibel, humorvoll und neugierig sind Wörter, mit denen man die fünf Frauen beschreiben kann. Das Alter jenseits der sechzig bringt seine Herausforderungen mit sich, doch Chuat und Reymond zeigen, dass es zu Unrecht so wenig beachtet wird.
Les dames | Film | Stéphanie Chuat, Véronique Reymond | CH 2018 | 82’ | Visions du Réel 2018, Locarno Film Festival 2018, Solothurner Filmtage 2019
Sibel
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Rebellin wider Willen
Ein Wolf im Wald. Ein Mädchen, das nicht dazugehört, und ein Brautfelsen, an dem seit Generationen Frauen mit Feuerritualen ihr Glück beschwören. Es sind das märchenhafte Zutaten, die das Regisseurspaar Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti in ihrem Film Sibel verwenden. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die sich nur in ihrer regionaltypischen alternativen Pfeifsprache mit ihren Mitmenschen verständigen kann. Seit Sibel als Kind verstummte, ist sie in ihrem türkischen Bergdorf zur Aussenseiterin verdammt, und doch ist sie stark an die Dorfgemeinschaft gebunden. Nicht nur durch die tägliche Arbeit auf Teeplantagen und Maisfeldern, sondern auch emotional. Das Mädchen sucht Anschluss, will im Dorf anerkannt werden – vor allem unter den Frauen. Sibel wird so eher zu einem Sozialdrama als zu einem modernen Märchen.
Zencirci und Giovanetti stellen in ihrem Film eine kleine Dorfgemeinschaft vor, in der die soziale Kontrolle durch gesellschaftliche Zwänge aufrechterhalten wird. Als solcher ist wohl auch die kursierende Angst vor dem Wolf zu verstehen. Um das Dorf vor der ewigen Bedrohung zu befreien, unternimmt Sibel Streifzüge durch den Wald. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich nach getaner Arbeit davonstiehlt, routiniert ihre hellbauen Ballerina-Schuhe gegen rote Gummistiefel tauscht und mit einer Flinte bewaffnet die Wälder am Fuss des Brautfelsen durchstreift. Doch anstatt des Wolfs trifft sie Ali, der sich auf der Flucht vor dem Militärdienst befindet. Er wird zur verhängnisvollen Projektionsfläche, sie zur Komplizin. Hier kommt für einen kurzen Moment die politische Gegenwart der Türkei ins Spiel. Wollen die Regisseure im Kleinen kommentieren, was im Grossen und Ganzen vorgeht?
Als Hauptfigur ist Sibel schön, aber nicht gefällig. Sie ist in ihrer Verletzlichkeit widerspenstig und dadurch durchaus sympathisch. Als Charakter bleibt sie aber leider in ihrer Sprachlosigkeit gefangen. Ihr Schauspiel wirkt etwas zu eindimensional und wild, als dass man eine wirkliche Nähe zur tragischen Heldin Sibel aufbauen zu könnte. In Märchen siegt das Gute immer über das Böse. Sibel ist ein Film über eine Rebellin wider Willen, die es vielleicht nicht schafft, sich allen Zwängen zu widersetzen, der es am Ende aber gelingt, eine Tradition für sich zu einzunehmen. Sibel entfacht ein Feuer am Fusse des Brautfelsens, für sich und für die anderen Frauen im Dorf.
Sibel | Film | Çagla Zencirci, Guillaume Giovanetti | TK-FR-DE-LU 2018 | 95’ | Locarno Festival 2018