Spagat

Ihre Affäre gehört genauso zu Marinas Alltag wie der Kuchenverkauf nach dem Tanzauftritt ihrer Tochter Selma an der Schule, an der sie gleichzeitig als Lehrerin tätig ist. Regisseur Christian Johannes Koch stellt in seinem Debütfilm Spagat gleich mehrere Lebenssituationen vor, die in unterschiedlichen Spannungsverhältnissen stehen. Doch zu Beginn gibt sich das Leben in der schweizerischen Provinz weder ausserordentlich idyllisch noch brisanter, als es den Tatsachen entsprechen könnte. Als Oberstufenlehrerin geht Marina routiniert ihrer Arbeit nach und ist Selma eine aufmerksame Mutter. Ihr Partner Jörg ist ein vorbildlicher Ehemann und Vater, und zu Marinas Geburtstag versammeln sich Freunde und Kollegen zu einem rauschenden Fest. Und doch geht Marina mit Artem, dem Vater ihrer Schülerin Ulyana, fremd. Koch unternimmt dazu keine Erklärungsversuche oder gibt Entschuldigungen, womit er gekonnt einer Romantisierung seines Themas entgeht. Ebenso zeigt er sukzessive das dünne Eis bürgerlicher Moralvorstellungen auf.

Artem ist ihr «Geheimnis» und hat selbst ein ungleich grösseres zu verbergen: Er und seine Tochter sind ohne Aufenthaltsbewilligung aus der Ukraine in die Schweiz gekommen. Nur der kleinste Zwischenfall könnte dazu führen, dass sie den Behörden auffallen und ausgewiesen werden. Dessen ist sich Artem sehr bewusst, sein Alltag ist hart. Er ist für die schmutzige Arbeit im nahe gelegenen Tagebau zuständig und von der Güte seiner Arbeitgeber abhängig, die selbst nach einem schweren Arbeitsunfall keine Verantwortung für ihn übernehmen wollen. Ulyana hingegen wünscht sich nichts mehr als ein normales Teenagerleben. Sie ist die begabteste Turnerin in ihrem Verein und darf nicht am grossen Turnier teilnehmen, um nicht zufällig aufzufallen.

Im Nebeneinander der Lebensrealitäten der beiden Familien liegt die Kraft dieses Films, in dem Martina zum fatalen Bindeglied wird, das letztlich beide Welten zerplatzen lässt. Koch konstruiert eine fatale Kettenreaktion von Ereignissen. Dazu reicht dieser eine (verständliche?) Fehler der jungen Teenagerin, die mit sehr viel Vehemenz eine «normale» Jugend einfordert. Den Spannungsbogen hält Koch bis zu Schluss, indem er elliptisch erzählt. Visuell ist Spagat zurückhaltend, manchmal leider etwas konventionell. Doch legt der Film deshalb umso mehr Gewicht auf die schauspielerischen Leistungen des Ensembles, das als Gesamtes sehr gut harmoniert. Für die Rolle des ukrainischen Vaters kann der Regisseur den in Russland sehr berühmten Schauspieler Alexei Serebrjakow verpflichten, der für seine Rolle erstmals Deutsch spricht. Spagat schafft es, grosse Themen herunterzubrechen auf eine dem Publikum besser zugängliche Ebene. Es geht um die Folgen von illegaler Arbeitsmigration und Ungleichheit in der Schweiz, die neben einer satten Wohlstandsgesellschaft existieren.

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Spagat | Film | Christian Johannes Koch | CH 2020 | 110’

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First published: July 14, 2021