Matar a Jesús

[…] Die Sünde und die Vergebung - genau darin liegt der Brachialcharakter dieser Szene - haben die Seiten getauscht; man könnte auch sagen: Mora Ortegas Jesús ist einer, der die Sünde der Welt nicht mehr auf sich nimmt, sondern dem sie bereits umgeschnallt ist.

[…] Man könnte auch sagen - zumindest in dieser einen Hinsicht -, Mora Ortegas Kino sei das in Kolumbien wiederauferstandene Kino Pasolinis, ein Kino an den Rändern einer Metropole, ein Kino der Laien, der Aufgeschürften, der Gnädigen, der Diebe und Mörder, ein Kino der Dialektsprecher, der Marginalisierten, der Randgestalten.

Text: Lukas Stern

Er steht schon Augenblicke vor dem Ende, da dreht der Film doch noch ins Christologische. Paula (die Debütantin Natasha Jarmillo) sitzt auf einer Bettkante in einem düsteren, ärmlich eingerichteten Zimmer mit unverputzten, blauen Ziegelwänden. Kurz zuvor wurde ihr auf offener Strasse der Rucksack mitsamt ihrem Kameraequipment abgenommen; ihr wurde ins Gesicht geschlagen und in die Hüfte getreten. Jesús (Giovanny Rodríguez) kniet vor ihr auf dem Boden, wringt einen Lappen im Wasser aus und wäscht ihr mit ungeahnter Behutsamkeit (fast schon Zärtlichkeit) das aufgeschürfte Gesicht. Gewiss, es ist das Gesicht, es sind nicht die Füsse, und dennoch wird klar, was Laura Mora Ortega in und mit dieser Szene im Sinn hat, nämlich die brachiale Umwertung biblischen Grundvokabulars. Es ist selbstverständlich kein Zufall, dass die titelgebende Figur ihres Films den Namen trägt, den der christliche Messias trägt, und es ist ebenso selbstverständlich kein Zufall, dass dieser Jesús ausgerechnet jenen Menschen wäscht, der ihm eigentlich nach dem Leben trachtet, ausgerechnet wenige Augenblicke bevor genau dieses Leben durch eine Pistole dramatisch aufs Spiel gesetzt wird.

Die Sünde und die Vergebung – genau darin liegt der Brachialcharakter dieser Szene – haben die Seiten getauscht; man könnte auch sagen: Mora Ortegas Jesús ist einer, der die Sünde der Welt nicht mehr auf sich nimmt, sondern dem sie bereits umgeschnallt ist; eine Art reinkarnierter Christus, auf dem die Last noch lastet, die er für die Menschheit und deren Vergebung auf sich nahm. Man könnte auch sagen: Mora Ortegas Jesús ist der Jesus Pasolinis, der Accattone, der Bettler, der in Pasolinis erstem Film schon auferstand, um am Ende abermals zu sterben, der nun also abermals auferstanden ist, um am Ende wieder in den Lauf einer Pistole zu sehen. Man könnte auch sagen – zumindest in dieser einen Hinsicht –, Mora Ortegas Kino sei das in Kolumbien wiederauferstandene Kino Pasolinis, ein Kino an den Rändern einer Metropole, ein Kino der Laien, der Aufgeschürften, der Gnädigen, der Diebe und Mörder, ein Kino der Dialektsprecher, der Marginalisierten, der Randgestalten.

Jesús und Paula begegnen sich ein erstes Mal in einem flüchtigen Blick; die Blicke treffen sich, als Jesús flüchtet. Auf offener Strasse erschiesst er Paulas Vater; sie ist dabei, als es geschieht; sie sieht den Vater fallen, dann sieht sie Jesús flüchten, sieht ihm flüchtig ins flüchtende Gesicht. Er sitzt auf dem Motorrad (Pasolinis Accattone starb auf einem Motorrad), sie im Auto. Die Polizei ermittelt, aber sie ermittelt träge, ohne Nachdruck und ohne Ergebnisse. Im Büro der Mordkommission stapeln sich die Akten der Tötungsdelikte. Es gibt kaum Aussicht auf Aufklärung. Dann sieht Paula Jesús wieder; sie erkennt ihn, er erkennt sie nicht – in der Disco. Sie lernen sich kennen, teilen ein Getränk, sie fährt auf seinem Motorrad mit, stemmt sich mit den Händen auf den Gepäckträger, presst ihren Körper an den seinen. Von solchen Motorradszenen gibt es viele; sie zeigen stets ein seltsames Zerrbild zwischen Hass und Erotik, zwischen Rache und Versöhnung.

In Matar a Jesús spitzt sich diese Zerrbildlichkeit fortwährend zu – und genau diese Bewegung ist auch die interessanteste und konsequenteste in diesem Film. Es beginnt mit einem sichtbar gesellschaftsanalytischen Interesse und es endet in der christologisch-metaphorischen Ideen- und Mythengeschichte. Der Tod des Vaters wird im Laufe des Films symbolisch umkodiert: Aus einer politischen Ordnung wird eine ethische. Tatsächlich etabliert Mora in den ersten Einstellungen ein ausgestellt (real-)politisches Setting. Paula gehört einer Gruppe studentischer Aktivisten an, die mit protodemokratischem Eifer über bildungspolitische Gesetzesvorhaben debattieren und Protestaktionen gegen anstehende Budgetkürzungen an Universitäten planen. Paulas Vater unterrichtet Philosophie und Soziologie an der Universität. Michel Foucault scheint sein Spezialgebiet zu sein. Vieles deutet auf einen politischen Mord hin; und vieles deutet in der Folge auch auf politisches Versagen hin; die Mordfall-Aktenstapel in den Behördenbüros zeugen von einer dramatischen Gelähmtheit des Justizapparats, von einer grundlegenden nationalen Labilität.

Mit der ersten Begegnung zwischen Paula und Jesús beginnen diese Fragen nach dem sozialpolitischen Istzustand Kolumbiens, nach staatlichem Versagen und behördlicher Ohnmacht aber zu verschwimmen – und das hat damit zu tun, dass Paulas Selbstjustiz-Vorhaben nicht mehr mit dem anfangs noch so exponierten gesellschaftsanalytischen Blick korrespondiert, sondern mit einem erotisch-körperlichen. Man könnte sagen, dass Matar a Jesús seine Stossrichtung in dem Moment ändert, in dem Paula das erste Mal auf das Motorrad des Vatermörders steigt; man könnte auch sagen, dass dieses Motorrad den gesamten Film an eine andere Stelle bewegt, in ein anderes symbolisches Rahmengerüst. Am Ende wird der Fall nicht aufgeklärt sein: Die Warum-Frage bleibt ungeklärt. Mora Ortega geht es nicht um Enträtselung; ihr geht es, im Gegenteil, um Verrätselung. Genau diese wird in den Körperbildern vorangetrieben, von Modulationsstufe zu Modulationsstufe. Die eng verbundenen Körper auf dem Motorrad, die halb nackten Körper im See, die sich überlagernden Körper bei der Schiessübung (Jesús zeigt Paula einmal, wie man eine Pistole bedient; er steht hinter ihr, führt ihre Hände mit seinen Händen), die hierarchischen Körper bei der Waschung – der sitzende, der kniende. Am Ende steht nicht nur keine Lösung, der Film endet nicht nur nicht als die politische Kriminalgeschichte, als die er begonnen hat; am Ende – und dass und wie es genau dazu kommt, ist das Spannende an Matar a Jesús – steht das Rätsel der Vergebung; mit all der Rätselhaftigkeit, die in einem Rätsel steckt, wenn es von jemandem formuliert wird, der Jesús heisst.

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Matar a Jesús | Film | Laura Mora Ortega | COL-ARG 2017 | 100‘ | Zurich Film Festival 2017, FIFDH Genève 2018

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First published: March 16, 2018