Ezequiel Yanco & Ana Godoy | La vida en común

[…] Mit «La vida en común» wagen sie den Versuch, das Gefühl der postkolonialen Entfremdung in eine Filmsprache zu übersetzen, die ebendieser Entfremdung Rechnung trägt, wozu durchaus auch Abstriche punkto Zuschauerverständnis etwa mittels Kontext in Kauf genommen werden.

[…] Die Jagd auf den Puma sollte das perfekte Übergangsritual für die Jugendlichen darstellen, indem sie eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft öffnet. Die Vergangenheit – das ist das Archaische, das Blutopfer; die Zukunft hingegen die Welt der absurden Gebäude und der Erwachsenen.

Text: Dominic Schmid | Audio/Video: Ruth Baettig

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft befinden sich in Ezequiel Yancos faszinierendem, aber  vielleicht etwas zu rätselhaften La vida en común in einem ständigen Nebeneinander, ohne dass sich der Film jemals darauf festlegen würde, welche der zeitlichen Ebenen, die in ihm herumschwirren, im Fokus steht. Diese Unentschiedenheit ist die zentrale ästhetische Strategie Yancos und seiner Cutterin Ana Godoy, durch die sie einen filmischen Raum entstehen lassen, den man kaum „dokumentarisch“ nennen kann, bei dem aber auch Klassifizierungsversuche wie „Dokufiktion“ oder andere Hybridbezeichnungen nicht ganz zutreffen. Mit La vida en común wagen sie den Versuch, das Gefühl der postkolonialen Entfremdung in eine Filmsprache zu übersetzen, die ebendieser Entfremdung Rechnung trägt, wozu durchaus auch Abstriche punkto Zuschauerverständnis etwa mittels Kontext in Kauf genommen werden. Ein Problem für den Film ist dies nicht unbedingt, da die Atmosphäre, die La vida en común durch seine Perspektivierung einzig über Kinder und Jugendliche sowie durch immer traumähnlicher werdende Bilderfolgen zu entwickeln vermag, sowohl stärker nachwirkt als trockene historische Exkurse wie auch universeller ist – wie zwei leuchtende Pumaaugen in der Nacht.

Wenn die Zeit in La vida en común keine Orientierung schaffen kann, so könnte im Idealfall stattdessen der Raum eine solche Rolle übernehmen. Doch auch jener ist hier vorbelastet: altes, expropriiertes Territorium, mit künstlichen und realen Grenzen überzogen, die ein Leben in Freiheit garantieren sollten, doch das Gegenteil tun. Die Pueblo Ranquel sind zwar die ursprünglichen Bewohner der Wüstengegend La Pampa im Norden Argentiniens, doch 400 Jahre Kolonialgeschichte haben noch nirgends Gutes für nomadisch lebende, autochthone Völker verheissen. Immerhin ein Reservat irgendwo in der Wüste hat man ihnen zugestanden sowie, mutmasslich um die aufgezwungene Sesshaftigkeit angenehmer zu gestalten, einige Bauten von besonders absurder, unwirklich anmutender Architektur zu grosszügiger Verfügung gestellt. Vom Nomadentum und der gewaltsamen Kolonisierung zeugen nur noch die Gemälde, die sich eine Schulklasse im Museum anschaut, während im Off Uriel, der Protagonist des Filmes, über seine zukünftigen, nicht sehr traditionell anmutenden Berufsaussichten nachsinnt. Die Pueblo Ranquel sind ursprünglich Jäger, doch wilde Tiere, die man jagen könnte, gibt es hier so wenig wie Perspektiven, Aufarbeitung oder Entschädigung. Die traditionellen Übergangsriten, die die Jugendlichen beschäftigen und denen sie nachzueifern versuchen, wirken wie ein Traum aus ferner Zeit.

Der Puma hingegen, der seit einiger Zeit immer wieder die Nutztiere der Siedlung tötet, ist frei und real. Er scheint aus einer anderen Zeit hergekommen zu sein, in der noch keine Europäer künstliche Grenzen um künstliche Gemeinschaften gezogen haben. Das Blut und die Eingeweide, die aus den klaffenden Wunden der toten Kühe treten und gierig von Hunden aufgeleckt werden, sind das Gegenteil der Siedlungen, die Kontrolle bedeuten. Die Jagd auf den Puma sollte das perfekte Übergangsritual für die Jugendlichen darstellen, indem sie eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft öffnet. Die Vergangenheit – das ist das Archaische, das Blutopfer; die Zukunft hingegen die Welt der absurden Gebäude und der Erwachsenen. Für die Zukunft interessiert sich der Film, sie ist bereits überall im Bild – im Science-Fiction-Film auf einem Bildschirm, in der Schule und im Nachdenken über Berufe –, nicht aber für die Erwachsenen. Sie repräsentieren eine Art tote Zukunft, finden kaum je den Weg ins Bild. Lebendig ist die Vergangenheit mit ihren blutigen Jagden, Ritualen und einer kulturellen Identität, die nicht von den Eindringlingen umgeformt und neubestimmt ist. Für einen Moment beleuchtet sie, gespiegelt in den Kinderaugen, die Gegenwart.

Aus all diesen Gründen ist es am Ende vielleicht auch konsequent, wenn sich Uriel der Jagd der anderen auf den Puma nicht anschliesst, sich stattdessen mit diesem zu identifizieren beginnt. Die Filmsprache Yancos hat sich zu diesem Zeitpunkt schon so weit vom dokumentarischen Realismus entfernt, dass sich das Zum-Puma-Werden Uriels als plausibler Ausweg aus der Gefangenschaft anbietet, in der sich die Pueblo Ranquel in der Gegenwart finden. Und auch wenn sich La vida en común weit weg von utopischen Impulsen bewegt – sich durch über die filmische Behandlung der lächerlich unpassenden Architektur über solche Gedanken sogar eher lustig macht, verkörpert der Puma schliesslich doch eine Art Hoffnung auf etwas anderes, das weder in Zukunft, Vergangenheit oder gar Gegenwart liegt, sondern irgendwo dazwischen – auf einer anderen Ebene.

Info

La vida en común | Film | Ezequiel Yanco | ARG-FR 2019 | 70’ | Visions du Réel Nyon 2019

Best Editing (Ana Godoy) at the BAFICI Festival Buonos Aires

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First published: April 15, 2019