Schlaf

[…] «Schlaf» funktioniert da besonders gut, wo er sich zwischen liminalen Zuständen hin- und herbewegt, also etwa zwischen Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, freundlicher Oberfläche und menschenverachtendem Gedankengut.

[…] Es ist Michael Venus mit «Schlaf» gelungen, jene politische Spielart des Horrorfilms, die das Genre in jüngster Zeit vor allem in den USA wiederbelebt hat, auf einen deutschen Kontext zu übertragen, und zwar auf eine Weise, die nicht (nur) die Traumata der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in die Gegenwart holt, sondern ganz explizit auch zeitgenössische Entwicklungen.

Manchmal braucht man der Realität gar nicht mehr so viel hinzufügen, damit diese zum Horrorszenario wird – oder zumindest zur Kulisse eines solchen. Das Grauen gesellschaftlicher Abgründe braucht keine dunklen Keller oder Höhlen; um sich zu entfalten, genügt ihm ein etwas isoliertes Setting, ein paar Geister aus der Vergangenheit sowie ein paar Männer, die aus dieser immer noch nichts gelernt haben. Kubricks Shining oder Twin Peaks sind klassische Beispiele dafür, dass das Unheimliche nur scheinbar aus einer anderen, verborgenen Sphäre in die lichtdurchflutete Wirklichkeit dringt; Get Out von Jordan Peele ein modernes. Kaum ein anderes Genre ist besser dazu geeignet, zwischenmenschliches oder gesellschaftliches Unbehagen affektiv hervorzukehren, als der Horrorfilm, und dass mit Schlaf erst jetzt einer entstanden ist, der sich mit einem der unheimlichsten aller zeitgenössischen politischen Phänomene auseinandersetzt, überrascht da schon fast. Das Wiederaufkommen faschistischer Ideen in Deutschland und ganz Europa ist ja gerade deshalb noch verstörender, weil es sich bei ihren Vertretern um eine Generation handelt, die sich mit dieser viralen Idee nicht während ihrer ersten Ausbreitung angesteckt hat, sondern sich von dieser quasi freiwillig hat infizieren lassen, im vollen Wissen um deren Bösartigkeit und potenziellen Folgen. Schlaf braucht den kurzen Namen dieser Entwicklung gar nicht erst nicht auszusprechen – die Sache ist spätestens dann klar, als der demonstrativ höfliche Hotelbesitzer während eines Vortrags mit der allzu bekannten Rhetorik zum Applaus der gesichtslosen Gäste seine wahre Gesinnung zu offenbaren beginnt. Für die Darstellung dieser Untoten braucht es keine aufwendige Maske.

Auch auf der reinen Plotebene spielt Schlaf bezeichnenderweise hauptsächlich mit Albtraum- und Geistermotiven – oft unter originell umgedrehten Vorzeichen zwar –, um seine schon etwas weniger originelle Familiengeschichte um familiäre Erbsünde und nicht ganz freiwilligen Suizid anzureichern. Die von Sandra Hüller gespielte Flugbegleiterin Marlene wird von Albträumen geplagt, in denen sie als eine Art Dämon verschiedene Männer in einem abgelegenen Hotel heimzusuchen scheint. Als sie dieses in einem Katalog wiedererkennt und zur Lösung des Rätsels besucht, wird deutlich, dass ihre Träume wie alles Imaginäre einen direkten Effekt auf die Realität ausüben. Die Erkenntnis versetzt sie in eine traumatische Schockstarre, worauf nicht nur der Film, sondern auch die noch unbekannte rächende Macht den Protagonistenstab an Marlenes Tochter Mona (Gro Swantje Kohlhof, beeindruckend) weiterreicht. Interessant an dieser Anlage ist nicht zuletzt, dass sich in Anbetracht der grösseren, wenn auch versteckten realen Bedrohung die metaphysischen Kräfte mit den Protagonistinnen verbünden – allerdings nicht, ohne diesen einen hohen Preis abzufordern. Gewiss, so will es das Genre, aber auch in Wirklichkeit funktionieren Teufelsaustreibungen kaum je, ohne dass sämtliche Beteiligten einen Schaden davontragen.

Schlaf funktioniert da besonders gut, wo er sich zwischen liminalen Zuständen hin- und herbewegt, also etwa zwischen Traum und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, freundlicher Oberfläche und menschenverachtendem Gedankengut. Insbesondere der von August Schmölzer gespielte Hotelbesitzer, letzter Überlebender einer von Suiziden verfolgten Dynastie, verkörpert jene letztere Dynamik mit beängstigender Natürlichkeit, da er in seiner Darstellung jede karikaturhafte Übertreibung zu vermeiden weiss. Etwas weniger gut funktioniert der Film dann, wenn er sich von seiner angespannten, diffusen Ambiguität entfernt und sich etwas zu weit in symbolistische Aussenbereiche wagt. Eine Szene, in der sich Mona im Traum zusammen mit der desillusionierten Dorfjugend einer Orgie hingibt, wirkt wie ein Fremdkörper in der sonst eben eher auf Zwischenbereiche ausgelegten Inszenierung. Und wenn gegen Ende des Filmes ein ganzer Saal von politisch alternativen Parteigängern Climax-artig mit K.-o.-Tropfen, Stroboskoplicht und düsterer Musik ausser Gefecht gesetzt wird, so mag das für die Zuspitzung der Narration hilfreich und in seiner politisch kathartischen Wirkung nicht ganz unbefriedigend sein, ist in seiner tonalen Brachialität aber dann doch eher einer anderen Art Kino zugehörig. Auch drohen die Genre-Elemente gegen Ende des Filmes überhand über dessen politische Botschaft zu nehmen.

All dies ändert keinesfalls etwas daran, dass es Michael Venus mit Schlaf gelungen ist, jene politische Spielart des Horrorfilms, die das Genre in jüngster Zeit vor allem in den USA wiederbelebt hat, auf einen deutschen Kontext zu übertragen, und zwar auf eine Weise, die nicht (nur) die Traumata der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in die Gegenwart holt, sondern ganz explizit auch zeitgenössische Entwicklungen. Man wünscht sich mehr deutschsprachige Filme, die das Potenzial des Genrekinos auf diese Weise zu nutzen wissen. 

 

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Screenings at the Zurich Film Festival 2020

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Schlaf | Film | Michael Venus | DE 2020 | 102’ | NIFFF 2020

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First published: July 13, 2020