Immer und ewig

[…] Es gelingt durch eine feinfühlige Montage das Augenmerk darauf zu legen, dass ein Film eine eigene, willkürliche Geografie zeichnen kann, um innere Welten der Hauptfiguren und ihrer Bedingtheit, ja die Schicksalshaftigkeit zu zeichnen.

[…] Gerade dieser Humor, gemischt mit einer leisen Selbstironie, mit der die Eltern ihrem Schicksal begegnen, beeindruckt tief. Das Leben wird gelebt und nicht bejammert, obwohl es Grund genug dafür gäbe.

Grenzen aushebeln... Ist es möglich, einen Rollstuhl auf die Bühne zu bringen? Im Video kurzer Ausschnitt von der emotional geladenen Premiere an den Solothurner Filmtagen 2019.

Text: Ruth Baettig | Audio/Video: Ruth Baettig

Eine rasante Fahrt über die weite, tiefblaue Wasseroberfläche eines unbekannten Meeres, dann plötzlich tauchen Delphine auf, die uns scheinbar den Weg weisen. Mit diesen Sinnbildern beginnt Immer und ewig, das jüngste, an den Solothurner Filmtagen eben preisgekrönte Werk von Fanny Bräuning. Die Filmemacherin nimmt uns auf einen filmischen Trip mit in die Aussen- und Innenwelt ihrer Eltern.

Da ist Niggi, der Vater, wie eine emsige Biene umsorgt er ohne Hadern seine engelhaft lächelnde Annette, die Mutter, die an MS erkrankt ist. Er erfindet, gestaltet und greift mit kräftigen Händen zu, wo es nötig ist. Fanny, die Tochter und Filmemacherin, packt das Publikum im Kinoraum sozusagen mit ins Gepäck, mit in den Bus auf eine einzige grosse Reise. Dabei geht es nicht darum, diese Reise chronologisch erfahrbar zu machen, denn eine Vielzahl von unterschiedlichen Reisen in den Süden, in die Berge, in die Vergangenheit und ans Meer verbindet sich mit Zwischenhalten zu Hause. Mutig und gewagt wird daraus eine nur mit filmischen Mitteln gezimmerte Reise möglich. Es gelingt durch eine feinfühlige Montage (Catrin Vogt) das Augenmerk darauf zu legen, dass ein Film eine eigene, willkürliche Geografie zeichnen kann, um innere Welten der Hauptfiguren und ihrer Bedingtheit, ja die Schicksalshaftigkeit zu zeichnen. Auch dramaturgisch entstehen wunderbare Momente, wenn zum Beispiel durch das Fenster die vorbeiziehende Landschaft mit einem Hochzeitpaar gefilmt wird und diese Aufnahme mit Archivmaterial der Hochzeit der Eltern verlängert wird.

Ist es nicht ein einziges langes Roadmovie ins Unbekannte, mit dem dieses Paar seit Jahrzehnten konfrontiert wird? Was verbindet die beiden, was trennt sie? Was treibt sie an? Wie weit tragen die Kräfte? Mit grossem Feingefühl und trotzdem hartnäckig geht die Tochter und Filmemacherin ans Werk. Sie weicht auch schwierigen Fragen nicht aus – in diesen Momenten ist sie die Filmemacherin. Dabei gehen der Vater wie die Mutter offen und zuweilen humorvoll auf die Fragen ein. Gerade dieser Humor, gemischt mit einer leisen Selbstironie, mit der die Eltern ihrem Schicksal begegnen, beeindruckt tief. Das Leben wird gelebt und nicht bejammert, obwohl es Grund genug dafür gäbe. So, wie der Vater erklärt, wenn er einen Platz für das Wohnmobil mitten auf einem Marktplatz oder mit bester Meeressicht findet – im Parkverbot versteht sich: «Wir parken nicht, wir wohnen.» Könnte die Liebe schöner gezeigt werden? So ist auch auf die herzerwärmende Szene hinzuweisen, in der Niggi mit Elan die Haare der vom Hals an abwärts gelähmten Annette in Form zu bringen versucht. Wunderbar komisch mutet das an! Man darf mitfühlen, mitlachen. Davor und danach rennt und eilt Niggi und sucht neue Fotosujets, denn das ist trotz allem doch seine Passion, hatte er doch das Fotografieren und damit seine erfolgreiche Karriere an den Nagel gehängt, als seine Frau zum Pflegefall wurde. Im Übrigen wurde sie selber über Jahre infolge fortschreitender Krankheit langsam von ihren Muskelkräften verlassen und musste ihr künstlerisches Schaffen wortwörtlich loslassen. Jetzt bleiben ihr nur noch die Augen. Die Ärzte meinten damals: «Das geht nicht mehr. Sie muss in ein Heim.» Fanny Bräuning wollte mit ihrem Film zeigen, dass Grenzen – wie sie selber sagt – ausgehebelt werden können, denn ihr Vater wollte auf keinen Fall seine Frau im Heim besuchen.

Interessant für das Publikum war im Q&A nach der Filmpremiere in Solothurn, die unterschiedliche Wahrnehmung der Protagonisten zu vernehmen, was wiederum zum Nachdenken anregte. So stimmt der Film zuweilen traurig und wirkt etwas belastend, trotz der Leichtigkeit, die in ihm steckt. Ich wage zu behaupten, dass das hauptsächlich an der etwas zu einfühlsamen musikalischen Vertonung liegt, der man sich nur schwer entziehen kann. Hier hätte die Filmemacherin ruhig mehr wagen dürfen und kontrastreichere, experimentellere Akzente setzen können. Somit wäre die gesamte Vertonung der inneren Stimmung dem Charakter der beiden Protagonisten möglicherweise noch nähergekommen und wäre der Gefahr der Projektion auf das Paar etwas entflohen, so wie es uns die beiden vorleben, nämlich «Grenzen aushebeln», den Tabus (einer Behinderung) entrinnen und auf die eigene, selbstbestimmte Reise gehen – so weit die Kräfte (und der Bus) tragen. Hier können wir Töchter, Söhne, Väter, Mütter, Filmemacher und Filmemacherinnen uns nur alle ein Stück gelebte Weisheit abschneiden. Wenn das Leben eine Sinnhaftigkeit hat, dann nur diese – Grenzen aushebeln...

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Immer und ewig | Film | Fanny Bräuning | CH 2018 | 85’ | Solothurner Filmtage 2019

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First published: February 02, 2019