Atlantique

[…] «Atlantique» aber gehört den Frauen, die zurückbleiben, den leeren Räumen und dem Meer. Die Geister, oder Dschinn, haben trübe, weisse Augen, wie im Zombiefilm der 30er-Jahre, und übernehmen zeitweise die Körper anderer, die irgendwie dazu offen sind.

[…] Auch das Politische steht hier nicht im Vordergrund, sondern befindet sich knapp unter der Oberfläche, wie ein Fels, der Schiffe zu versenken droht.

Das Meer. Immer wieder richtet die Kamera ihren Blick von der Landspitze, die Dakar ist, auf den Atlantik hinaus. Und selbst wenn dieser nicht direkt im Bild ist, bleibt er Teil davon, bestimmt  Farben, Klänge und Rhythmus. Das Meer lockt und tötet, das tat es schon immer. In letzter Zeit aber sind es viel zu viele geworden, die seinen Versprechen verfallen und erliegen. Im Senegal weist es den Weg nach Norden, nach Europa, wo die Hoffnung liegen soll. Die Fischerei, von der man immer leben konnte, bringt schon lange nichts mehr ein. Die jungen Männer arbeiten jetzt auf Baustellen, konstruieren absurd geformte Hochhäuser. Doch der Lohn bleibt seit drei Monaten aus, der Bauherr ist leider gerade verreist, da könne man nichts machen, beschwichtigt der Vorsteher reuevoll. Auf der Ladefläche eines Lieferwagens während des Heimwegs, oder vielleicht schon vorher, fasst man den Plan, die Überfahrt nach Spanien zu wagen. Obwohl so viele bereits nicht zurückgekehrt sind und es auch nie werden. Haushohe Wellen und anderes, dem die kleinen Pirogen nicht gewachsen sind, lauern auf dem weiten, offenen Meer. Doch die Versuchung, von der Verzweiflung genährt, ist zu gross.

Souleiman liebt Ada und Ada liebt Souleiman. Beide wissen das und ahnen das Glück. Doch Ada ist schon Omar versprochen. Der ist zwar reich, schenkt ihr ein iPhone – bei der Farbe war er unschlüssig – und verbringt die meiste Zeit in Italien, wo auch sein Geld herkommt. Doch er ist gefühllos. Er ist nicht Souleiman. Nachdem dieser aufs Meer gegangen ist, ohne sich zu verabschieden, überwindet sich Ada also dazu, Omar zu heiraten. Ihre Familie will es so, und was will sie auch sonst machen. Sie müsse schon etwas netter und unterwürfiger mit Omar umgehen, sonst nehme sich dieser noch vor dem ersten Kind eine Zweitfrau, wird sie gewarnt. Während der Hochzeitsnacht fängt das Bett Feuer, in der Mitte der Matratze, ein schwarzes Loch klafft da jetzt. Die Polizei untersucht, doch findet keinen Brandherd. Jemand will Souleiman gesehen haben, aber das ist unmöglich. Ada wird zum Jungfräulichkeitstest geschickt. Sie besteht, denn am letzten gemeinsamen Nachmittag mit Souleiman wurden sie von einem Wärter überrascht und verscheucht. Am Abend war Souleiman dann schon weg, zusammen mit den anderen Männern. Die Abreise sieht man nicht, aber die Frauen und Freundinnen, die jetzt einsam in der Bar am Meer sitzen, beleuchtet von Discolichteffekten ohne Musik. Die Bar wird wohl schliessen müssen, wenn die Männer nicht mehr kommen. Die Räume sind schon vereinsamt, bevor die Nachricht vom Kentern der Piroge eintrifft. Und solche Räume – leer und traurig – laden bekanntlich die Geister ein.

Mati Diop hat bereits vor zehn Jahren einen kurzen Dokumentarfilm – mit demselben Titel im Plural – über die Männer gedreht, die aufs Meer wollen, und das, was sie dahinter zu finden hoffen. Am Feuer sitzen sie da und reden über die Gefahren und über die Chancen. Geister gibt es noch keine, aber Zahlen und Fakten auch nicht, nur das Feuer in und vor den Augen. Atlantique aber gehört den Frauen, die zurückbleiben, den leeren Räumen und dem Meer. Die Geister, oder Dschinn, haben trübe, weisse Augen, wie im Zombiefilm der 30er-Jahre, und übernehmen zeitweise die Körper anderer, die irgendwie dazu offen sind. Wenn man Atlantique als Genrefilm einordnen will, muss man dahin zurück. Die kolonialen Hintergründe haben sich zwar verschoben, aber nur leicht; die Poetik ist dieselbe geblieben. Genrekino ist Atlantique aber sowieso nur bedingt; die Dschinn sind mehr traurig als gefährlich. Das Geld, welches ihnen vom Bauherren zusteht, fordern sie trotzdem ein. Am Tag klaren sich die Augen wieder auf, das Leben muss weitergehen. Nicht aber bevor Ada und Souleiman die einzige gemeinsame Nacht doch noch gewährt, oder besser: vom Schicksal eingefordert wird, das auch mit buchstäblichen Ketten nichts ausrichten kann. Es ist nicht dasselbe, aber immerhin.

Da Atlantique den Rhythmus vom Meer her hat, ist er langsam, aber auch kraftvoll, bestimmt. Die Bilder sind von Claire Mathon, die auch jene von Portrait de la jeune fille en feu gemacht hat. Beide Filme drehen sich um Landschaften, Körper, Gesichter, abwesende Männer. Wobei Letztere hier tatsächlich vermisst werden. Auch das Politische steht hier nicht im Vordergrund, sondern befindet sich knapp unter der Oberfläche, wie ein Fels, der Schiffe zu versenken droht. Die Umstände, die Souleiman dazu verführen, aufs Meer zu gehen, und Ada dazu zwingen, einen Mann zu heiraten, den sie nicht will, lassen sich durch einen Film nicht ändern. Es ist ja bereits eine kleine Sensation, dass Atlantique der erste Film einer schwarzen Frau ist, der im Wettbewerb von Cannes aufgeführt wurde. Da soll man nicht noch mehr politisch Unmögliches verlangen. Etwa dass Männer wie Souleiman ihre Zukunft nicht nur noch in Europa sehen können, obwohl sie dafür Frauen wie Ada verlassen müssen. Dass ihre Reise nach Europa nicht nur mit kleinen Pirogen möglich sein sollte, die den Wellen nicht standhalten. Dass es nicht von Filmen wie diesem abhängen sollte, dass die Menschen auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres Empathie für die anderen zu entwickeln beginnen.

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Atlantique | Film | Mati Diop | FR-SEN-BE 2019 | 104’

Grand Prix at Festival de Cannes 2019

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First published: November 01, 2019