The Landscape and the Fury

[…] Es ist dieser Verzicht auf die Statements, die grossen Bilder und Gesten, der die Eindringlichkeit des Films ausmacht. Vögele schaut der Gleichzeitigkeit ins Gesicht.

Leben einer Landschaft

Jemand geht einen Feldweg entlang, der Wind raschelt durch einen Laubwald, in einer Schuhsohle zittert eine Pfütze. Die langen Einstellungen laden zum Hinschauen ein. Durch den körnigen 16-mm-Film wirken die Bilder wie farbenfrohe Landschaftsgemälde, in denen ein Detail ein Eigenleben entwickelt hat. Im Porträt ist ein kleiner Ort an der bosnisch-kroatischen Grenze. In den Wäldern und Feldern ringsherum liegen noch heute Minen aus dem Bosnienkrieg der 1990er-Jahre. Seit Jahren kommen hier Geflüchtete über die Balkanroute auf ihrem Weg in die EU entlang. Mit ihrer Kamera (Stefan Sick) fängt Vögele die Spuren ein, die Krieg und Flucht in Landschaft und Ort hinterlassen.

Die Bewohner:innen des Dorfes, das aus ein paar in die Landschaft gestreuten Häusern und einem Minarett besteht, kennen das Leid der Vorbeiziehenden. Viele mussten in den 1990er-Jahren selbst fliehen, ehe sie zurückkamen. Wer jetzt vorbeikommt, erhält deshalb wie selbstverständlich etwas zu essen oder ein Paar Schuhe – oft kommen die Flüchtenden barfuss aus den Wäldern zurück, nachdem sie illegale Pushbacks erfahren haben. Auch die Praktiken der kroatischen Behörden sind den Anwohner:innen längst bekannt.

In der EU-Öffentlichkeit sollte man nicht davon erfahren. Als Teil eines Recherchenetzwerks machte Vögele sie öffentlich. Bislang hat sie ihr journalistisches und ihr filmisches Schaffen strikt getrennt. Mit The Landscape and the Fury entschied sie, auch filmisch von der Grenzregion zu berichten. Aber anders. Pro Drehtag liessen sich etwa zehn Minuten einfangen – trotz Förderung ist das analoge Filmen teuer, wie die Filmemacherin im kleinen Presseraum auf dem Dokumentarfilmfestival in Nyon erklärt. Die Verknappung zwinge sie, mit ihrer Umgebung in Verbindung zu treten. Im Schnitt, für den sich Vögele fast ein Jahr Zeit nimmt, befragt sie die Bilder erneut. Während der Recherche an der kroatischen EU-Aussengrenze lernte Vögele auch, genau hinzuhören: Drohnen und Helikopter erkennen, ein Polizeiauto von einem gewöhnlichen unterscheiden. Ihre Bilder unterlegt sie deshalb mit Originalaufnahmen aus Ravnice, die entweder in den immer wieder vorkommenden Aufnahmen bei Nacht das Nicht-Sichtbare zeigen oder einen diffusen Bedrohungshintergrund erzeugen, auch wenn sie nur von den Motorrädern der Dorfjugend stammen.

Im Detail zeigt sie die grossen Fragen. Passbilder, die auf einem nassen Laubboden aufweichen, prägen Existenzen wie das Stück Land, auf dem sie liegen. Die gelben Plastikbänder, mit denen ein Minensucher die Landschaft in «gefährlich» und «sicher» teilt, zeigen, wie willkürlich Grenzen gezogen werden. Und weiss die Birke, dass ihre Nachbarin jenseits der EU-Grenze steht? Es ist dieser Verzicht auf die Statements, die grossen Bilder und Gesten, der die Eindringlichkeit des Films ausmacht. Vögele schaut der Gleichzeitigkeit ins Gesicht: Während eine Flüchtlingsfamilie aus einem Wald kommt, scheint die Sonne. Auf dem kleinen Fleck Land irgendwo in Bosnien zeigt sich aber auch ein Stück Menschlichkeit, wenn ein Kriegsveteran einer Flüchtlingsfamilie ein Planschbecken vermacht, auch wenn diese auf der Durchreise keine Woche bleiben wird (wir sehen die Übergabe nicht, erfahren später davon).

Das Aushalten von Komplexität und Gleichzeitigkeit gelingt auch durch die ästhetischen Entscheidungen. Das Zoomen in die Details birgt eine Poesie, die zum Nachdenken anregt. Wer Fragen stellt, findet Antworten. Wer länger hinschaut, sieht mehr, versteht – auch das Unbegreifliche. Vögeles Film lässt sich als Kommentar auf immer heftigere Bilder von Kriegsschauplätzen lesen, wie sie in Nachrichten und sozialen Medien kursieren. Als Journalistin weiss sie, wie wichtig Originalaufnahmen sind. Ihr Film lockt aber vielleicht deshalb abgestumpfte Augen zum scharfen Beobachten, schockt nicht und geht so nur mehr unter die Haut.

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Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem MA Kulturpublizistik ZHdK entstanden.

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The Landscape and the Fury | Film | Nicole Vögele | Visions du Réel Nyon 2024 | Grand Prix Visions du Réel 2024

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First published: April 24, 2024