Stop-Zemlia

[…] Man könnte fast sagen, dass der Film den Beweis dafür erbringt, dass es für die Melancholie keine Rolle spielt, ob ihr Ursprung im Ich, dem Anderen oder im aktuellen oder zukünftigen Zustand der Welt liegt.

[…] Stop-Zemlia liefert dafür selbst die besten Argumente, indem sich seine zentralen Szenen im unvermittelten Kontakt zwischen den Körpern abspielen…

1.

Ein Sportfeld irgendwo in Kiew. Jugendliche spielen Fussball, ein Mädchen mit kurzen Haaren läuft an ihnen vorbei. Ihr Gang wirkt seltsam angespannt, als ob sich Körper und Seele noch nicht ganz darüber einig geworden sind, welchem Ziel man sich verschreiben soll. Ein verirrter Ball trifft die Entscheidung, bringt das Mädchen, Masha (Maria Fedorchenko), und die Jungs miteinander ins Gespräch. Zu Letzteren gehört auch Sasha (Oleksandr Ivanov), ähnlich introvertiert wie Masha, aber kein Aussenseiter wie sie. Masha trägt eine Tasche mit Badmintonschlägern, die Jungs möchten gerne spielen. Masha schaut ihnen zu, aber keiner der Spieler kommt gegen den plötzlich aufkommenden Wind an, der den Ball immer wieder zum abschlagenden Spieler zurückträgt. Im Hintergrund erklingt leise eine Sirene, das Spiel findet seinen Lauf nicht.

2.

Beunruhigend oder gar ominös ist an dieser Anfangsszene von Kateryna Gornostais Stop-Zemlia eigentlich nicht viel, sieht man einmal vom Bedrohungsszenario einer unerwiderten Teenagerliebe ab, das hier sanft angedeutet wird. Trotzdem ist es unmöglich, sich der melancholischen Stimmung zu erwehren, die das vom Wind gestörte Badmintonspiel hier von Beginn an entwickeln lässt. Nicht obschon, sondern gerade weil es sich bei Stop-Zemlia um ein vermeintlich harmloses Coming-of-Age-Drama handelt, schiebt sich der aktuell stattfindende Krieg über jedes einzelne Bild, sei dieses kontemplativ, verspielt oder aber von der Euphorie der Jugend geprägt, die immer schon ahnt, dass jeder Glücksmoment endlich ist. Der Krieg, der in der Ukraine hier noch eine unbestimmte Wahrscheinlichkeit ist wie der Wind, der plötzlich ein Spiel zunichtemachen kann, findet alleine in unseren Köpfen statt. Am Gefühl ändert das aber nichts.

3.

Dass Stop-Zemlia trotz der gewaltsamen Verschiebung des Fluchtpunktes dieser Melancholie nach wie vor sowohl funktioniert wie berührt, ist mindestens bemerkenswert. Man könnte fast sagen, dass der Film den Beweis dafür erbringt, dass es für die Melancholie keine Rolle spielt, ob ihr Ursprung im Ich, dem Anderen oder im aktuellen oder zukünftigen Zustand der Welt liegt. Wenn das Schöne gerade deshalb schön ist, weil es nicht von Dauer ist, welche Rolle spielt es dann, wodurch es beendet wird? Eine rhetorische Frage, mit der sich keine Politik machen lässt, aber um Politik geht es in Stop-Zemlia zuallerletzt. Während einer Unterrichtsstunde zur «Verteidigung des Vaterlands» – ein Fach, das in so gut wie allen postsowjetischen Staaten regulär unterrichtet wird – wenden sich Masha und mit ihr der Film irgendwann angewidert ab, wenn die Mitschüler im Zusammenbau und im Gebrauch einer Kalaschnikow instruiert werden. Ihr bester Freund Senia (Arsenii Markov) deutet traumatische Ereignisse aus dem Osten an. Mascha nimmt ihn schweigend in den Arm, aber der Trost hat es schwer.

4.

Was 17-Jährige tun sollten: sich verlieben, sich betrinken, Drogen nehmen, tanzen, das Gesetz brechen, Flaschendrehen spielen, Dinge ausprobieren, Dinge erkennen, Dinge bereuen, tanzen, Freunde küssen, mit den Eltern streiten, an der Welt verzweifeln, sich versöhnen. Was sie nicht tun sollten: in den Krieg ziehen müssen.

5.

Nichts mehr zum Krieg jetzt, denn zur erwähnten Stimmung, die einen beim Schauen von Stop-Zemlia im Frühjahr 2022 ergreift, kommt dazu, dass der Film auch ohne seine traurige, aktuelle Relevanz zu jeder Zeit ein weit überdurchschnittliches Coming-of-Age-Drama gewesen wäre. Nur selten bekommt man diese Generation – in der Ukraine oder anderswo – so unverstellt im Kino zu sehen. Unverstellt durch dominante Drehbücher, die den Figuren Entwicklung aufzwängen, unverstellt auch durch formale Einbindung der zeitgenössischen digitalen Ästhetiken. Nichts gegen solche, bloss neigen solche Spielereien dazu, den Blick zu verstellen auf das, was in dieser Sorte von Film zählt: die Prozesse, welche die chaotischen Affektrealitäten von Jugendlichen in einem spezifischen soziokulturellen Kontext wenn auch nicht ordnen, so zumindest für die Wahrnehmung von aussen öffnen. Natürlich geht es dabei auch um Authentizität, aber ich will nicht daran glauben, dass das Digitale bereits alle Wahrnehmungsprozesse so weit verändert hat, dass diese ohne entsprechenden Filter nicht mehr darstellbar wären. Stop-Zemlia liefert dafür selbst die besten Argumente, indem sich seine zentralen Szenen im unvermittelten Kontakt zwischen den Körpern abspielen: eben beim Flaschendrehen, bei den gefährlichen Kussexperimenten unter engen Freunden, beim Slowtanz an der Schulfeier und beim titelgebenden Spiel, bei dem es irgendwie darum geht, mit geschlossenen Augen die Körper der anderen zu greifen zu bekommen, bevor mit dem überraschenden Ruf Stop-Zemlia die Suche beendet wird.

6.

Die Darsteller:innen sind alle Laien und haben ihre Figuren gemeinsam mit der Regisseurin entwickelt. Wenn wir sie hin und wieder in Interviewsituationen sehen, ist nicht ganz klar, ob hier die Schauspielerin oder die Figur spricht. Die Inszenierung mutet dokumentarisch an, gerade in den Szenen, die im Dokumentarfilm kaum gezeigt werden. Die Distanz zwischen den Darsteller:innen und ihren Figuren ist gross genug, dass die Privatsphäre nur andeutungsweise verletzt wird. Am Ende des Films fragt Masha oder Maria Fedorchenko während des Interviews die Regisseurin, ob sie sich durch die Arbeit am Film in ihren eigenen emotionalen Zustand als Teenager zurückversetzt fühle. Die Frage ist gehaltvoller, als es auf den ersten Blick scheinen mag, und sie richtet sich auch an uns. In Anbetracht des Angriffes der Zukunft auf die Gegenwart ist sie aber unmöglich zu beantworten. Jedenfalls bis sich der Wind wieder legt.

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Stop-Zemlia | Film | Kateryna Gornostai | UKR 2022 | 122’

Crystal Bear for Best Feature Film by the Generation 14plus Youth Jury at the Berlinale 2022

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First published: March 29, 2022