Luzifer | Peter Brunner - Franz Rogowski

Interview mit Peter Brunner und Franz Rogowski

[…] Prinzipiell hat mich die Grundgeschichte […] am ehesten in der Hinsicht interessiert, weil ich das Gefühl hatte, dass man auf diesem Weg Ideologie beschreiben kann.

[…] Für mich sind Körper in dem Sinn stets Projektionsfläche und Werkzeug zugleich. Mit anderen Worten: Der Körper ist der letzte Schrei, den wir im 21. Jahrhundert haben.

[…] Aber ich denke, dass in dem Weniger-Sprechen für mich oft ein grösserer poetischer Raum entsteht und ich immer eine gewisse Frustration empfinde, wenn meine Figur erklärt, wer sie ist, wo sie herkommt, wo sie hingeht…

Text: Pamela Jahn

Es hätte ganz leicht schiefgehen können, wie so oft bei Filmen, die ihm Grenzgebiet zwischen Wahrheit und Fiktion experimentieren. Filme, die mit dem Risiko zu scheitern leben und sich selbst erst im Prozess ihrer Entstehung finden. Filme wie Luzifer des Österreichers Peter Brunner, der gemeinsam mit der Pastorin und Künstlerin Susanne Jensen und dem Ausnahmeschauspieler Franz Rogowski ein bild- und ideengewaltiges Werk geschaffen hat.

Ganz weit oben auf dem Berg wohnen Jensen und Rogowski als Mutter und Sohn, näher am Himmel, näher bei Gott. Dabei hat die in sich schwer gebrochene Frau mit dem ausgemergelten, tätowierten Körper und dem kahlgeschorenen Kopf ein ganz eigenes Verhältnis zur Religion wie zur Welt insgesamt, das sie ihrem Johannes auf eine Art und Weise vermittelt, die verstört, bestürzt, die aber immer wieder auch ungemein berührt. Äusserlich ein junger Mann, im Geiste jedoch ein Kind, das lieber mit Raubvögeln kommuniziert, als mit Menschen zu sprechen, ist Johannes bedingungslos dieser zutiefst traumatisierten, unheiligen Maria verbunden.

In dieser prekären Konstellation machen sich die Darsteller schliesslich daran, nicht nur sich selbst in dem von der Kamera imposant eingefangenen naturgegebenen Landschaftspanorama zu positionieren, sondern miteinander auf eine emotionale Sinnsuche zu gehen, die von Ritualen und einem blinden Glauben ebenso bestimmt wird wie von Fanatismus, Sehnsucht, hochfliegenden Drohnen und unaufhaltsamen Bauvorhaben. Das Ergebnis ist ein zugleich faszinierendes und beunruhigendes Konglomerat aus Widersprüchen und Extremen, aus Untergang und Neubeginn, Gewalt und Zärtlichkeit.

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Interview mit Peter Brunner und Franz Rogowski, von Pamela Jahn

Pamela Jahn (PJ): Herr Brunner, Sie spiegeln in Ihren Filmen immer wieder Extremerfahrungen. Woher kommt das und was reizt Sie daran so sehr?

Peter Brunner (PB): Das ist eine spannende, aber auch eine sehr schwierige Frage. Ich kann nur sagen, dass ich mit den Filmen auf der Suche nach etwas bin, das einen besonderen Zustand beschreibt. Ich liebe die Bilder von Francis Bacon, weil es Bilder sind, bei denen man während des Betrachtens direkt in ein Gefühl, in einen Zustand hineinversetzt wird. Und ich denke, dass alle Kunst, ob Film, Musik, Malerei oder Literatur, diese Aufgabe hat. Das heisst, in dem Moment, wo man künstlerisch tätig ist und direkt oder indirekt mit einem Publikum in Berührung kommt, geht es darum, eine emotionale Reaktion in den Menschen hervorzurufen, um ihnen eine Möglichkeit zu bieten, herauszufinden, was das, was sie sehen oder hören oder lesen, für sie bedeutet, was es mit ihnen macht. Andererseits bin ich vielleicht schon auch ein radikaler Typ, weil ich in meiner Jugend schwierige Erfahrungen gemacht habe, die mich dazu getrieben haben, gegen den Strich zu gehen, und ich diesen Widerspruch unterbewusst jetzt auch in meinen Filmen zum Ausdruck zu bringen versuche.

PJ: Was hat Sie speziell an der Geschichte fasziniert, die Sie in Luzifer erzählen?

PB: Die Geschichte ist inspiriert von einer wahren Begebenheit. Das war unser Ausgangspunkt, um mit den Schauspielern eine emotional realistische Untersuchung zu starten, die der Frage nachgeht, wie es dazu kommen kann, dass ein Kind die Doktrinen von einer sehr religiösen Mutter spürt, in sich aufnimmt und sich selber radikalisiert, und wie man aus diesem Extrem vielleicht auch wieder herausfinden kann. Es geht also nicht nur um das Hineinfallen in einen Fanatismus, sondern auch darum, wie man ihm wieder entkommen kann. Das war mir sehr wichtig. Aber prinzipiell hat mich die Grundgeschichte, dass jemand, der emotional oder intellektuell eine Einschränkung hat und einem Erziehungsberechtigten ausgesetzt ist, der ihn sein Leben lang mit Glaubensvorsätzen prägt und das Ganze in einer Drucksituation zur Tragödie wird, am ehesten in der Hinsicht interessiert, weil ich das Gefühl hatte, dass man auf diesem Weg Ideologie beschreiben kann. Es ging mir also nicht darum, etwa dokumentarisch ein Krankheitsbild zu beschreiben, sondern ganz konkret mit den Darsteller:innen in einen künstlerischen Prozess einzutauchen, in dem wir versucht haben, uns mit dem, was in der wahren Geschichte passiert ist, in einer Art filmischen Mediation auseinanderzusetzen.

PJ: Sie haben es bereits angesprochen, Ihr Film beschreibt ein sehr ambivalentes Verhältnis zu Religion. Wie steht es mit Ihrem eigenen Glauben?

PB: Ich denke entscheidender als mein eigener Glaube ist die Tatsache, dass die weibliche Hauptrolle im Film von Susanne Jensen gespielt wird, einer unheimlich starken Künstlerin, die aber eben auch als Pastorin tätig ist, und das war sozusagen ein Hauptgrundsatz des Films, dass diese Frau, eine Jeanne-d’Arc-ähnliche Glaubensehrlichkeit hat. Als Missbrauchsüberlebende und Pastorin hat sie von vornherein ihre eigene Theologie, ihre eigene Wahrheit in den Film mit eingebracht, und von ihren Anschauungen haben wir schliesslich alle ungemein profitiert, weil es etwas war, woran wir uns orientieren konnten. 

Franz Rogowski (FR): Für mich persönlich ist das mit der Religiosität so, dass ich an keinen Verein glaube oder an einen Gott, aber den Geist von etwas Höherem oder Spirituellen, den kann man sowohl in der Natur sehr gut nachempfinden als auch in den archaischen Beziehungen zwischen Menschen. Und ich glaube genau diese zwei Sehnsuchtsorte von Göttlichkeit oder Spiritualität sind auch die zentralen und integralen Bestandteile dieses Films. Also zum einen die Natur mit ihrer ganzen brutalen Kraft, die sie auch beim Drehen mit sich gebracht hat, und auf der anderen Seite der Versuch, diese Natur zu kultivieren – hier am Beispiel einer Mutter-Sohn-Beziehung und in einem Film, in dem sich verschiedene Energien und Dynamiken aneinander reiben und voneinander abstossen. Ich würde also schon sagen, dass ich einen Glauben habe. Aber es ist kein Glaube, der eine Steuer zahlen muss, sondern es geht eher darum, eine Art Verbundenheit mit der Welt in ihrer Gesamtheit zu spüren, wo man als Mensch erfahren kann, dass man Teil ist von etwas nicht Zählbarem und nicht Verstehbarem, das sich in seinem wahren Ausmass niemals erfassen lässt. Und das ist schon sehr angenehm, weil es einen relativiert und im besten Sinne unwichtig macht.

PJ: Würden Sie sich selbst als Naturmensch bezeichnen?

FR: Ja, ich bin ein grosser Naturmensch. Allerdings wäre mir nur Natur auch unangenehm. Ich brauche schon immer auch den Wechsel von Natur und Kultur. Aber was mir bei diesem Film sehr geholfen hat, war, dass Peter es mir ermöglichte, in einem Autobus im Wald zu wohnen. Das heisst, ich konnte mich sowohl am Set als auch vor und nach den Dreharbeiten in kalten Eisbächen waschen und mir auf einem kleinen Gaskocher das Essen zubereiten. Nur ab und zu bin ich dann doch ins Haus gekommen, in die Sauna.

PJ: Das Verhältnis von Johannes und seinem Adler ist ein weiteres zentrales Motiv im Film. Wie freundet man sich mit einem Greifvogel an?

FR: Wir haben bereits ein Jahr vor dem Beginn der Dreharbeiten mit der Hilfe eines Falkners begonnen, ein Verhältnis zwischen einer älteren Adlerdame und mir aufzubauen. Nur muss man sich das weniger wie ein Band der Freundschaft vorstellen als wie eine Art von Grundvertrauen, das man herzustellen versucht in dem Sinne, dass die Adlerdame irgendwann weiss, sie bekommt von mir Futter und ich tue ihr nicht weh. Und gleichzeitig musste ich den Punkt erreichen, wo ich wusste, wenn ich jetzt keinen Fehler mache, dann hat das Tier die Möglichkeit, sich mit mir zu arrangieren. Ich glaube, so weit haben wir es gebracht. Und für mich hat das Verhältnis zwischen Johannes und seinem Adler im Film übrigens auch fast etwas Religiöses oder Göttliches, und zugleich ist es eine ganz irdische, menschliche Freundschaft, die da entsteht.

PJ: Andersherum hat auch die Art und Weise, wie Mutter und Sohn miteinander umgehen, etwas Animalisches, sehr Physisches. Woran haben Sie sich in Ihrer Darstellung von Körperlichkeit orientiert?

PB: Ich bin ein Kind der 68er-Generation und da gibt es einige Aktionisten:innen, die mich in der Hinsicht immer fasziniert und inspiriert haben, wie beispielsweise Joseph Beuys oder Maya Deren. Für mich sind Körper in dem Sinn stets Projektionsfläche und Werkzeug zugleich. Mit anderen Worten: Der Körper ist der letzte Schrei, den wir im 21. Jahrhundert haben. Viele Menschen sind heute medizinischen Apps ausgeliefert, die einen daran erinnern, wann man aufstehen muss, wie viel man laufen muss. Gleichzeitig ist unser Körper der letzte Anker zu etwas, das eine Rückbesinnung ermöglicht. Wir sind nun einmal ein Teil der Natur, aber unsere Gesellschaft ist heute so konditioniert, dass wir uns der Natur permanent entgegenstellen. Die Pandemie hat das einmal mehr deutlich gemacht.

FR: Für mich persönlich kann ich in der Hinsicht sagen, dass eine Entscheidung für das Physische oft auch eine Entscheidung gegen die Unkörperlichkeit der Worte ist. Ich glaube, dass wir heutzutage allgemein vor einer stolzen Körperlichkeit regelrecht Angst haben. Wir nutzen sie eigentlich gar nicht mehr, ausser vielleicht in der Karikatur unserer eigenen Identität. Aber ich denke, dass in dem Weniger-Sprechen für mich oft ein grösserer poetischer Raum entsteht und ich immer eine gewisse Frustration empfinde, wenn meine Figur erklärt, wer sie ist, wo sie herkommt, wo sie hingeht … wenn sozusagen der Plot seine Bedürfnisse entlädt. Viel spannender finde ich es, Figuren so zu spielen, dass sie eine Würde behalten. Und für mich hat diese Würde eben konkret damit zu tun, dass ein Körper seine Identität nicht erklären muss, sondern sein Geheimnis für sich wahren kann. Wenn man den Gedanken weitertreibt, dann wünsche ich mir eigentlich fast schon ein Kino, in dem man überhaupt nicht mehr versteht, worum es geht, aber in dem man die Körper dafür umso mehr spüren kann und eine Reibung entsteht zwischen dem eigenen Körper und den Körpern des Kinos.

PJ: Herr Brunner, Sie haben von Ihren Einflüssen gesprochen. Studiert haben Sie unter Michael Haneke. Inwieweit hat er Sie und Ihre Art, Filme zu machen, beeinflusst?

PB: Was mich am meisten beeindruckt hat, ist der kindliche Enthusiasmus, den er seinen Studenten stets vermittelt hat. Und damit zusammenhängend die Bedeutung des Arbeitsprozesses mit den Schauspielern, genauer gesagt die Notwendigkeit, in ihre Rollen zu schlüpfen. Ich lernte das in der Method-Acting-Klasse von Susan Batson, die Michael Haneke organisiert hatte. Er selbst hatte in seinen frühen Dreissigern bei ihr studiert. Diese Art von Rollentausch zwischen Regisseur und Schauspieler war eine einschneidende Erfahrung für mich im Hinblick auf meine eigene Arbeitsweise. In dem Moment, wo man an dem kreativen Prozess mit den Schauspielern beteiligt ist, erfährt man selber auch eine Bestärkung in den eigenen Prozess, was vor allem in schwachen Momenten sehr hilfreich sein kann.

PJ: Diese intensive Auseinandersetzung mit den Schauspieler:innen erzeugt im Film eine bemerkenswerte Wirkung, ein Gefühl, das stets zwischen Brutalität und Zärtlichkeit changiert. Wie haben Sie selbst diesen Prozess während des Drehens empfunden?

FR: Ich denke, dass das Harte immer auch durch das Zarte definiert wird und umgekehrt. Und mit Susanne Jensen war es so, dass mich das Zusammenspiel mit ihr wirklich auch tief berührt hat, weil sie von Anfang an einforderte, dass wir uns ernsthaft und ehrlich und auch schonungslos begegnen und uns nichts vorspielen. Von daher glaube ich, dass das Ganze von vornherein etwas sehr Rohes hatte, weil es niemals darum ging, zu sagen, okay, wir lernen beide unsere Texte und dann spielt der eine behindert und der andere traumatisiert. Hier treffen sich zwei Figuren, die auch biografisch etwas zu tun haben mit dem, was sie da spielen. Denn das Ganze ist ja auch ein Experiment, das einen Prozess abbildet und nicht nur eine Fiktion. Und ich glaube, das hat immer etwas Brutales, aber auch was Zartes, und wenn man einen Liebesfilm machen will, und das ist dieser Film ja auch, dann braucht es unbedingt diese Synthese aus dem Harten und dem Weichen. Ein Eros entsteht eben nicht in der Dauererektion und in der totalen Impotenz, sondern die Mischung machts.

PB: Was mich interessiert und was uns im Endeffekt auch dazu motiviert hat, dass wir auf diese spezielle Art und Weise an dem Film gearbeitet haben, ist genau diese Suche nach Widersprüchlichkeiten wie zart und brutal und dass man die Widersprüche zeigt, wie sie sind. Es geht um die Suche nach den Brüchen in den Figuren und darum, ein Verhalten zu finden, das wahrhaftig ist. Und wie sich die Mitwirkenden darauf eingelassen haben, ist und bleibt für mich das Spannendste an dem Film, denn ohne das wäre das alles ziemlich arm – dann wäre das Experiment sozusagen in seinem Kern gescheitert. 

 

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Screenings in October 2022 at Kino Rex Bern

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Luzifer | Film | Peter Brunner | AT 2021 | 103‘ | Locarno Film Festival 2021

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First published: August 31, 2021