Fabian oder Der Gang vor die Hunde | Albrecht Schuch

[…] Graf bedient sich der gesamten Bandbreite an visuellen Ausdrucksformen, lässt Mehrfachbilder, Archivaufnahmen, Stummfilm-, Digital- und Super-8-Optiken über die Leinwand tanzen, um den Rausch, das Wilde und die Orientierungslosigkeit der Weimarer Jahre tief in die Struktur seiner kühnen Kästner-Lektüre einzubrennen.

[…] Allerdings lässt Graf seine Figuren den Text nicht nur sprechen, sondern in jeder Sekunde des Films leben, als gäbe es kein Vor und kein Zurück, als gäbe es nur die Magie des Augenblicks.

Weiter unten das erhellende INTERVIEW MIT SCHAUSPIELER ALBRECHT SCHUCH

Text: Pamela Jahn

Ein körperliches Kino

Es gibt Filme, die sind ihrer Zeit voraus. Andere schwelgen in der Vergangenheit. Und dann gibt es Filme wie Dominik Grafs Fabian oder Der Gang vor die Hunde, der einen förmlich aus dem Heute ins Gestern reisst und innerhalb des turbulenten Geschehens fast unmerklich immer wieder auch auf die Grausamkeiten von morgen verweist. Dafür braucht der Regisseur oftmals nicht mehr als einen unschuldigen Kameraschwenk über ein paar vielsagende Pflastersteine. Dennoch brennt sich das Bild in die Erinnerung ein und verharrt dort, noch lange nachdem dieser atemberaubende Film seine Augen längst wieder geschlossen hat.

Es sind jedoch nicht nur kleine Kunstgriffe wie dieser, die Fabian zu einem Ereignis machen. Graf bedient sich der gesamten Bandbreite an visuellen Ausdrucksformen, lässt Mehrfachbilder, Archivaufnahmen, Stummfilm-, Digital- und Super-8-Optiken über die Leinwand tanzen, um den Rausch, das Wilde und die Orientierungslosigkeit der Weimarer Jahre tief in die Struktur seiner kühnen Kästner-Lektüre einzubrennen. Seine Auseinandersetzung mit dem Avantgarde-Roman über den Grossstadtflaneur und Moralisten Jakob Fabian, aus dessen Sicht der Autor 1931 den sittlichen und geistigen Verfall der modernen Gesellschaft beschrieb, ist eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen und zwei Freunden ebenso wie zwischen dem Kino und der Literatur. Es sind die Worte des Schriftstellers, die auch Grafs Drehbuch bestimmen, etwa wenn sich Fabian tief ins verruchte Berliner Nachtleben stützt oder mit seinem Studienfreund Labude über das Leben philosophiert. Allerdings lässt Graf seine Figuren den Text nicht nur sprechen, sondern in jeder Sekunde des Films leben, als gäbe es kein Vor und kein Zurück, als gäbe es nur die Magie des Augenblicks.

Eng verbunden mit dieser Unmittelbarkeit, die beinahe jeder Szene, jeder Einstellung von Fabian eingeschrieben ist, schafft sich auch Grafs ewige Sehnsucht nach einem «körperlichen Kino» immer wieder bis in die verlegensten Ecken Raum, macht das Licht, die Luft, den Schweiss der Menschen erfahrbar und bringt so nicht selten das Wirklichkeitsempfinden ins Wanken. Er richtet den Blick auf das, was mit Fabian und um ihn herum geschieht, und überlässt seine Geschichte zugleich der erlösenden Kraft von Grossaufnahmen, Perspektivwechseln und Close-ups, die stets auch von dem erzählen, was sein könnte. Trotzdem sind diese Bilder nie grösser als das, was ist. Die Kamera bleibt bei den Figuren, blickt schwermütig auf die, die sich in ihrem Dasein verrennen und daran zugrunde gehen, und verbündet sich mit den unglücklich Verliebten ebenso wie mit den abgeklärten Prostituierten. Die raue, berauschende Poesie von Kästners Original steckt tief in der Textur des Films, und Graf macht sie lebendig und wahr, indem er das Kino nicht nur als einen Ort des Erzählens ernst nimmt, sondern zugleich als einen Ort des existenziellen, des konzentrierten Sehens.

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Interview mit Albrecht Schuch, von Pamela Jahn

Pamela Jahn (PJ): Herr Schuch, mit Dominik Graf zu drehen, gilt als besondere Erfahrung. Wie muss man sich die erste Begegnung vorstellen? Welche Erwartungen hatten Sie an die Zusammenarbeit?

Albrecht Schuch (AS): Das Erste, was ich von Dominik Graf bekommen habe, war eine E-Mail wie aus einer anderen Zeit, weil man es heute nicht mehr gewohnt ist, so toll formulierte Brief zu lesen von Menschen, die man nicht kennt. Und da war jemand, der hat so geschrieben, wie ich früher immer mein Tagebuch hätte schreiben wollen. Aber es klang gar nicht verstaubt, gar nicht. Er hat mich direkt gefragt, ob ich mit ihm diesen Film machen will, ohne ein Casting. Und ich habe mich natürlich sehr geehrt gefühlt, habe ihm aber dann auch zurückgeschrieben, dass ich ihn gerne vor einer endgültigen Zusage treffen wollen würde, weil ich das bräuchte, um zu wissen, ob es wirklich wir beide sind, die diese Geschichte gemeinsam erzählen sollten. Wir haben uns daraufhin in der Münchener Villa Stuck getroffen und sind durch den Park spaziert, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Man blieb stehen, schaute sich an. Auch diese Begegnung hatte etwas sehr Poetisches, Erhabenes, aber nicht im überheblichen Sinn. Wir kamen dann bald auf den Friedhof, wo Kästner liegt und Fassbinder und wo auch Dominik Grafs Eltern begraben sind. Und er erzählte mir die ersten Anekdoten darüber, wie und wo Dominik Graf Kästner auch mal persönlich getroffen hat. Da war mir dann sehr schnell klar, warum er diesen Film machen musste und ich gerne ein Teil davon sein wollte, weil er trotz allem, was er in seinem Leben erreicht hat, nicht aufhört, bei sich zu bleiben.

PJ: Fabians Freund Stefan Labude ist eine extrem zerrissene Figur. Er steht zwischen zwei Lebenskonzepten: der Traum vom romantisch-poetisch politischen Schriftsteller vs. den Druck des Vaters, in seine Fussstapfen zu steigen. Liegt darin der grosse Konflikt, an dem er scheitert?

AS: Die Zerrissenheit in Bezug auf die zwei Lebenskonzepte ist nur ein Teil von dem, was die Figur Labude ausmacht. Das steckt noch mehr dahinter. Es sind ja so viele Einflüsse, die ihn beschäftigen. Er würde beispielsweise sehr gerne auch so frei und unbekümmert auf die Welt schauen können, wie es zum Beispiel ein Fabian tut. Mit diesem Abstand, der nicht so emotional verknüpft ist, sondern zumindest versucht, das Ganze etwas pragmatischer zu betrachten.

PJ: Können Sie sich damit auch ein Stück weit selbst identifizieren? Sie wirken als Mensch eigentlich recht bodenständig.

AS: Für mich als Schauspieler ist so eine konfliktbeladene Figur natürlich wunderbares Futter, um Ambivalenzen herzustellen, eine Vielschichtigkeit zu erzeugen, um einen Traum gegen eine Realität zu stellen oder Dämonen gegenüber den Drang, ein guter Mensch sein zu wollen. Ich glaube, der Beruf hat mich in der Hinsicht ruhiger gemacht, der Austausch, der Umgang mit solchen Charakteren. Aber ich habe beides in mir, das Ruhige oder Bodenständige, wie Sie es nennen, und eine innere Unruhe, wie die, die den Labude zerfrisst. Aber wahrscheinlich trifft das auf jeden von uns zu. Ich kenne keinen Menschen, der nicht manchmal auch an sich verzweifelt und sich infrage stellt. Da sind wir uns alle ähnlich. Das sind die Zitate einer Naturgewalt in uns, die uns wetterhaft von hell und dunkel, vom Lachen zum Weinen und mit allen möglichen Schattierungen dazwischen überfallen können, und zwar in den unterschiedlichsten Situationen. Und ich finde es schön, dass es in einer Zeit, in der es so viel um Selbstoptimierung geht und darum, einem Anspruch an Perfektion zu folgen, der nichts Natürliches mehr hat, dass man da eine Figur wie Labude hat, um sie dem dagegenzusetzen. Dass das Kino die Kraft hat, mit Figuren wie dieser daran zu erinnern, dass wir – vielleicht bis ans Ende unseres Lebens – immer auf der Suche sind und bleiben. Das kann auch sehr schön sein.

PJ: Dominik Graf arbeitet in seinem Film viel mit Kästners Originaltext. Wie hat sich das auf Ihr Spiel ausgewirkt?

AS: Labude ist eigentlich ein Poet, einer, der eine Rolle in der Welt spielen möchte, die was mit Literatur und Politik zu tun hat, aber letztendlich ist das literarische Werk sein Abschiedsbrief. Und das hat so eine urkomische kästnerische Art und Weise mit ins Spiel gebracht, die mich auch selbst aufgefangen hat vor so einer Bedeutungsschwangerhaftigkeit, was den Text angeht. Deshalb finde ich Kästner auch so toll, weil der Roman so wenig didaktisch funktioniert, sondern immer von einer Leichtigkeit getragen wird, sich auch über sich selbst amüsieren kann. Und trotzdem vermittelt er gleichzeitig stets den Eindruck: Dein Gefühl zählt!  

PJ: Ist Labude auch an der Epoche zugrunde gegangen, in der er lebt? War er seiner Zeit voraus oder hinterher?

AS: Ich glaube, so Zweifler wie Labude haben es in der heutigen Gesellschaft teilweise auch sehr schwer. Und das, obwohl wir uns menschlich total mit ihm verbunden fühlen. Aber wenn wir von einer Leistungsgesellschaft ausgehen, dann hat es allzu oft keinen Platz, Leute auszuhalten, die Stopp sagen, weil sie Fragen haben und weil sie sich in dieser Verkürztheit, die heute herrscht, nicht äussern können. Es geht heute nur noch darum, alles so schnell wie möglich auf den Punkt zu bringen. Und so eine Zeit des Suchens ist immer weniger anerkannt. Anderseits darf man auch nicht vergessen, dass Labude durch den Krieg noch mal eine ganz andere Erfahrung gemacht hat, dass er Bilder und Dämonen in sich trägt, die er niemals loswerden kann. Da wage ich es eigentlich kaum, einen Vergleich herzustellen.

PJ: Sie versuchen sich oft über das Tanzen an Ihre Figuren anzunähern. Wie muss man sich das vorstellen? Und wie haben Sie sich in den letzten Monaten beholfen, seit das Tanzen im Club pandemiebedingt nicht mehr möglich ist?

AS: Ja, ich liebe es, beim Tanzen im Club in der Masse zu verschwinden und dann in den Text zu gehen. Während der Corona-Phase sind zwei Projekte entstanden, und bei All Quiet on the Western Front mit Edward Berger beispielsweise bin ich durch die Körperlichkeit der Figur, die ich spiele, in der Art, wie sie sich bewegt, auch auf etwas wie Tanz gekommen. Also darüber, wie dieser Stanislaus Katczinsky läuft oer was ihn krümmt, was ihn breitbeiniger macht oder schmalschultrig. Aber es stimmt, das ist diesmal nicht durch eine Party oder einen Abend im Club entstanden, der ein alleiniges Rumtanzen ermöglicht, wie ich es sonst liebe.

PJ: Für den bösartigen Reinhold in der Adaption von «Berlin Alexanderplatz» markierten Sie sogar einen Buckel und hinkten, um Ihr Umfeld zu täuschen. Worum ging es Ihnen bei dieser Figur ganz konkret?

AS: Ich hinterfrage bei jeder Rolle, die ich spiele, den Körper – oder den Habitus, und da gehört der Körper natürlich dazu. Und bei Reinhold war es eine ganz klare Entscheidung von mir, von aussen nach innen zu gehen, von der Oberfläche und deren Körperlichkeiten zum Innenleben des Charakters vorzudringen. Ein Grund dafür lag darin, dass uns bewusst war, dass es auch eine theatrale Überzogenheit in der Figur geben muss, wo man vielleicht an die Grenze des filmisch Ertragbaren oder der Sehgewohnheit gerät, die wir kennen. Dass er zum Spieler wird, sich selbst zur Marionette macht. Sodass man als Zuschauer immer nur erahnen kann, was tatsächlich in ihm vorgeht.

PJ: Corona hat seine Opfer gefordert, vor allem auch Filmfestivals waren davon betroffen. Wie haben Sie nach dieser langen Zeit des Ausharrens das Bildrausch-Filmfest erlebt, wo Fabian oder der Gang vor die Hunde im Juni seine Schweizer Premiere feierte?  

AS: Der Ort ist toll, das Festival auch. Vor allem hatte ich dort zwei, drei solcher Begegnungen, wie ich sie sonst nur von Castorf-Inszenierungen aus der Volksbühne kenne. Wo es überhaupt kein Problem ist, auch mal einige Minuten abzudriften, weil manche Filme, die dort gezeigt wurden, sich ganz toll Zeit lassen. Dadurch, dass ein Dreh verschoben wurde, war ich ausnahmsweise ohne Arbeit in Basel und konnte ein paar Tage wirklich komplett abschalten. In der Hinsicht war das Festival auch Fortbildung im leichtesten und entspanntesten Sinne.

PJ: Welche Filme haben Sie am meisten berührt?

AS: Ich habe einen Film aus dem Kosovo gesehen, Looking for Venera, und der hat mich direkt umgehauen, das war genau meins. Der Ton, das Uneitle, die Kamera. Ich fotografiere selbst gern und habe diese Kamera geliebt, weil sie meiner Meinung nach im Zusammenspiel mit den Charakteren etwas ganz Tolles erschaffen, noch mal eine ganz neue Welt aufgemacht hat. Meine Lieblingseinstellung war die, wo man ein Auto von aussen sieht, und darin sitzen zwei Pärchen, die irgendwie versuchen rauszufinden, wo sie selbst im Leben stehen und wie sie vielleicht miteinander sein könnten. Und in der Spiegelung der Autoscheibe sieht man einen Steinbruch. Da ist Poesie für mich die Überschrift im Film. Da ist es als Zuschauer für mich noch möglich, mit meinen eigenen Gedanken einen Platz zu finden. Und ich bevorzuge Filme, wo das möglich ist. Wo ich als Zuschauer nicht unterfordert werde, weil nicht alles erklärt, gezeigt und gesagt wird, sondern wo mir eine Richtung angezeigt wird, in die ich mich fortbewegen kann, aber nicht muss, wo ich auch verweilen kann und wo mir überlassen bleibt, welchen Rahmen ich dem Ganzen gebe. Ich glaube, das Poetische ist für mich die Überschrift für dieses Filmfest insgesamt.

PJ: Und das trifft ja auch auf Fabian zu.

AS: Ja, auf jeden Fall. Bei der Premiere wurde das im Nachgespräch auch von vielen Menschen beschrieben, das Poetische. Und um noch mal auf Ihre erste Frage zurückzukommen: Mir ging es am Anfang ja auch schon so, in der Begegnung mit Dominik Graf. Ich habe sofort gemerkt, dass er im Grunde gar nicht an dieser Verfilmung scheitern kann, weil er nicht nur eine adäquate Umsetzung vom Roman zum Drehbuch gefunden hat, sondern an Kästner angelehnt seine eigene Handschrift, seine eigene filmische Sprache findet. Das ist extrem wichtig, finde ich. Und das Ergebnis spricht für sich.

 

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Fabian oder Der Gang vor die Hunde | Film | Dominik Graf | DE 2021 | 176' | Bildrausch Filmfest Basel 2021

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First published: July 01, 2021