Davos
[…] Bereits das erste Bild von «Davos» zeigt, wo sich die Filmemacher Daniel Hoesl und Julia Niemann innerhalb der grotesken und surrealen Welt des WEF verorten: im Abseits.
[…] Als Sinnbild der Vereinnahmungsmacht des globalen Marktes ist das fast lückenlose Direct-Cinema-Beziehungsgeflecht zweifellos treffend.
[…] Doch der ständige Kontrast zwischen den Perspektiven wird dem Film ein Stück weit zum Verhängnis. Im immer neu formulierten Nebeneinander fremder Welten kann keine dieser Welten mehr allein für sich existieren.
Text: Karsten Munt
Aus den oberen Stockwerken des InterContinental-Hotels sieht Davos wie ein kleines, malerisches Bergdorf aus. Von den Terrassen des «goldenen Eis» blickt man über Seen und Alpenwiesen auf die Welt hinab und erlebt die Karikatur der Schweiz, die Stanislaw Lem in «Lokaltermin» beschreibt: ein Ort, an dem man zwar Meldungen von Krieg, Bomben und deren Opfern lesen kann, aber alles so weit weg erscheint, als sähe man es durch ein umgedrehtes Fernglas. Was für Lem Satire war, wird in Davos einmal im Jahr Realität, an den Tagen des Jahrestreffens des World Economic Forum (WEF). In den Suiten des InterContinental-Hotels wie auch in den anderen speziell hergerichteten Räumlichkeiten bietet Davos den Staats- und Grossunternehmensoberhäuptern die Geborgenheit, die es braucht, um auf die Probleme der Welt hinabzuschauen und das Unglück zu diskutieren, das es irgendwo geben mag, aber hier, wo Ruhe und Ordnung herrschen, sicher nicht.
Bereits das erste Bild von Davos zeigt, wo sich die Filmemacher Daniel Hoesl und Julia Niemann innerhalb der grotesken und surrealen Welt des WEF verorten: im Abseits. Ein Broadcasting-Team wird bei einem Interview gefilmt, das scheitert, bevor es überhaupt begonnen hat. Nachdem sich die Reporterin auf eine Box gestellt hat, damit sie für die Kamera auf Augenhöhe ihres Interviewpartners ist, und beide ihr Fernseh-Lächeln aufgesetzt haben, übertönt der Lärm eines Schneefahrzeugs die gut geprobte Anmoderation. Die Kamera steht quer zum Geschehen und unterstreicht damit noch einmal, dass der Film nicht die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums befragen will, sondern von der Seitenlinie auf das kapitalistische Grossereignis blickt, das einmal im Jahr in den Bergen abgehalten wird.
Der Kontrast zwischen der dörflichen Lebens- und Infrastruktur und den Pavillons des WEF, hinter denen diese verschwindet, ist das grundlegende ästhetische Prinzip des Films. Bereits Tage vorher bereitet sich das Dorf auf das Ereignis vor, das durch die Präsenz von Militär und Polizei wirkt wie eine jährliche Parade von Kolonialherren. Was hier nicht ins Bild passt, wird kurzerhand umdekoriert: Aus der lokalen Buchhandlung wird das Salesforce-Hauptquartier, über dem der Slogan «Blaze your trail to a better world» steht; wo vorher ein Gehweg war, wird nun eine Facebook-Lounge hochgezogen. Hoesl und Niemann entwerfen den Widerspruch dabei nicht über einzelne Symbolbilder, sondern spannen eine lange Assoziationskette um die Tage des Weltwirtschaftsforums. Die reicht so weit, dass sich auch das basalste Alltagsritual in den Strukturen der exklusiven Welt spiegelt, die Davos für die Eliten des Kapitals baut: Der bis zur körperlichen Erschöpfung geführte Kampf um das Leben eines Kalbs, das schliesslich im Stall der Alpenbauernfamilie tot geboren wird, steht direkt vor dem digitalen Meeting eines Managers, der sich auf der Terrasse des InterContinental selbst dabei zuhört, wie er gut gelaunt in zwei Sprachen Phrasen drischt und dazu sein Frühstück serviert bekommt.
Als Sinnbild der Vereinnahmungsmacht des globalen Marktes ist das fast lückenlose Direct-Cinema-Beziehungsgeflecht zweifellos treffend. Doch der ständige Kontrast zwischen den Perspektiven wird dem Film ein Stück weit zum Verhängnis. Im immer neu formulierten Nebeneinander fremder Welten kann keine dieser Welten mehr allein für sich existieren. Die Landwirte, die Nachtclubbesitzer oder die lokale Nachrichtenredaktion – alle werden in direkte Beziehung zum WEF gesetzt. Hinter dem tot geborenen Kalb, jedem erfolglosen Fischereiausflug, der hohen Champagnernachfrage und dem geringen Etat des Immigrationszentrums lauert die mit dem Helikopter eingeflogene Welt des Weltwirtschaftsforums. Dabei scheinen die Lebenswelten für sich genommen mitunter deutlich interessanter, als sie es im Bezug zum Jahrestreffen der Wirtschaftsmächtigen sind. Doch der kleine Familienhof, der in der Laufzeit des Films aufgelöst werden muss, ist im Film genauso auf die Rolle des Gegengewichts zum grossen Kapital reduziert wie das Transitzentrum, in dem die jungen Migranten den Alltag zwischen Ramadan, Hip-Hop und der Abschiebung ihrer Freunde verbringen. Die sich hier entfaltende internationale Lebenswelt liegt letztlich doch nur als argumentativer Briefbeschwerer neben dem Weltwirtschaftsforum auf der Waagschale.
Wie wichtig es ist, den von Lohnarbeits- und Lebensrealitäten abgekoppelten Finanzmarkt über eine solche Dialektik wieder einzufangen, erklärten die Teilnehmer des Weltwirtschaftsforums schliesslich selbst. Mary Erdoes (CEO von J.P. Morgan Asset & Wealth Management) hält eine kurze Rede, in der ebenjene Finanzinstrumente gelobpreist werden, die eine wichtige Rolle darin spielten, die amerikanische Immobilienkrise zur globalen Finanzkrise zu machen. Die zweiminütige Aneinanderreihung von Finanzwelt-Buzzwords schliesst mit einem emphatischen «That is what capitalism is all about» und leitet damit wiederum perfekt auf das nächste Bild über: ein «A Day in the Life of a Refugee» genanntes Live-Rollenspiel in einem dafür konzipierten Flüchtlingscamp. Hier setzen sich eine Handvoll WEF-Teilnehmer dem künstlich erzeugten Stress des Geflüchtetendaseins aus. Für ein paar Minuten dreht sich für die Freiwilligen aus den Reihen der Weltelite das Fernglas um und sie schauen beschämt und peinlich berührt dem plötzlich sehr nah gerückten Unglück der Welt ins Gesicht. Wenig später wird die Fassade des Weltwirtschaftsforums wieder abgebaut und mit ihm der kurze Budenzauber aus der Parallelwelt des Kapitals.
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Screenings in Swiss cinema theatres
Info
Davos | Film | Daniel Hoesl, Julia Niemann | AT 2020 | 99‘ | Visions du Réel Nyon 2020
First published: April 24, 2020