Chris the Swiss

[…] Ein hybrides Werk voller Gegensätze und Anziehungspunkte, das immer dann am besten funktioniert, wenn die Filmemacherin selbst in den Hintergrund tritt und ihre Protagonisten, Zeichnungen und Bilder für sich sprechen lässt, auch wenn die Geschichte, die sie erzählen, unmittelbar mit der Vergangenheit der Regisseurin in Verbindung steht.

[…] Kern ihrer Strategie und nicht zuletzt Teil des düsteren Zaubers dieser bestürzenden Reise in die Vergangenheit sind die mit viel Liebe fürs Detail von Kofmel eigenhändig angefertigten Animationen, in denen nicht nur ihre innige Beziehung zu ihrem Cousin in ihrer ganzen Wärme und Zuneigung zum Ausdruck kommt, sondern auch die Verzweiflung und unendliche Trauer des Verlusts.

Text: Pamela Jahn

In der Kombination aus Dokumentation und Animation liegt eine Kraft, die Filmemacher in den letzten Jahren verstärkt zu schätzen gelernt haben. Ob in biografisch angelegten Langfilmen wie Marjane Satrapis Persepolis (2007) und Ari Folmans Waltz with Bashir (2008) oder mit dem Schwerpunkt auf die Nachzeichnung von Fakten wie in Keith Maitlands beachtlichem Dokumentarfilm Tower (2016) über den ersten grossen Amoklauf in den USA im Jahre 1966, bei dem 14 Menschen ums Leben kamen, in der eigenständigen Vermischung von Form und Genre kann, bei klugem Einsatz der Mittel, etwas ganz Eigenes, Neues und ästhetisch wie inhaltlich anspruchsvolles Ganzes entstehen, das die Grenzen der filmischen Auseinandersetzung nicht nur erweitert, sondern zugleich herausfordert.

Anja Kofmels Dokumentarfilm Chris the Swiss, der im Rahmen der Critics’ Week in Cannes uraufgeführt wurde und zuletzt beim Internationalen Filmfest in Karlovy Vary zu sehen war, ist so ein hybrides Werk voller Gegensätze und Anziehungspunkte, das immer dann am besten funktioniert, wenn die Filmemacherin selbst in den Hintergrund tritt und ihre Protagonisten, Zeichnungen und Bilder für sich sprechen lässt, auch wenn die Geschichte, die sie erzählen, unmittelbar mit der Vergangenheit der Regisseurin in Verbindung steht. Denn Kofmel ist die kleine Cousine des Schweizers Christian Würtenberg, um den sich ihr Dokumentarfilm dreht. Als die Leiche des 27-jährigen Journalisten am Morgen des 7. Januar 1992 wenige Kilometer von der serbischen Grenze entfernt aufgefunden wird, ist Kofmel noch ein kleines Kind, dem die grausamen Einzelheiten hinsichtlich der Todessursache zunächst verschwiegen werden. Dennoch hinterlässt der Verlust ihres Cousins eine tiefe Narbe in der Erinnerung, die sie mit ihrem Film fünfundzwanzig Jahre später ein Stück weit zu schliessen versucht.

Fünf Jahre lang war sie den Mördern auf der Spur, hat nachgefragt, geforscht, gefilmt und immer wieder gezeichnet, um die Worte und Bilder greifbarer zu machen und die Lücken zu schliessen, die ihre Recherchen ergaben. Denn der Fall Würtenberg ist alles andere als eindeutig. Tatsächlich war der junge Reporter kurz vor seiner Ermordung Mitglied der rechtsextremen Söldnerbrigade «First International Platoon of Volunteers» (PIV) geworden, dessen Anführer Eduardo Rosza Flores bis heute behauptet, serbische Scharfschützen hätten „Chris the Swiss“ (so sein Spitzname unter den Söldnern) getötet. Der Obduktionsbericht bestätigt jedoch, dass Würtenberg erdrosselt wurde, und auch dass ein befreundeter britischer Fotograf, der nach dem Tod des Schweizers auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, drei Tage später an der genau gleichen Stelle ums Leben kommt, dürfte kein Zufall sein. Allein die Beweise fehlen und viele Fragen bleiben offen: Was hat den jungen Mann geritten, sich freiwillig der brutalen Gefahr auszusetzen, sein Leben zu riskieren und schliesslich zu verlieren? War sein Söldnerdasein lediglich Teil seiner Undercover-Recherche, oder welche Motive steckten wirklich dahinter? Warum musste er sterben? Und hätte sein Tod vielleicht doch verhindert werden können?

Viele Anhaltspunkte bleiben Kofmel trotz ihrer ausführlichen Nachforschungen nicht und somit erliegt sie erst gar nicht der Versuchung, am Ende ihres Films zu einem vermeintlich schlüssigen Ergebnis zu kommen. Zu verstrickt sind die politischen Hintergründe mit den persönlichen Standpunkten ihrer Protagonisten und ihren eigenen Erinnerungen und Emotionen. Dennoch gelingt der Filmemacherin über weite Strecken etwas Besonderes: ausgehend vom ihrem individuellen, unschuldigen Kinderblick zu einer differenzierten, faszinierenden und durchaus kritischeren Betrachtung der Ereignisse zu gelangen. Kern ihrer Strategie und nicht zuletzt Teil des düsteren Zaubers dieser bestürzenden Reise in die Vergangenheit sind die mit viel Liebe fürs Detail von Kofmel eigenhändig angefertigten Animationen, in denen nicht nur ihre innige Beziehung zu ihrem Cousin in ihrer ganzen Wärme und Zuneigung zum Ausdruck kommt, sondern auch die Verzweiflung und unendliche Trauer des Verlusts. In einfachen, grob geschwungenen Linien, schwarz auf weiss, erweitert sie die Perspektive und schafft zugleich einen willkommenen, intensiven Kontrast zu den Archivmaterialien, Interviews und Filmaufnahmen, die sich nur immer tiefer in Gegensätze, Unsicherheiten und Ambivalenzen verstricken. Wenn Chris the Swiss bisweilen an seiner leise wütenden Kraft einbüsst, dann nur, weil es Kofmel auch nach über zwei Jahrzehnten sichtlich schwerfällt, den nötigen Abstand zu den Geschehnissen zu halten. Doch das ist nur ein kleiner Mangel in einem Film, der in seiner Gestaltung und Genrewendigkeit alles tut, um den Zuschauer mitten hineinzuversetzen in die Gedankenwelt der Beteiligten – allen voran in diejenige von Chris, die uns dennoch für immer verschlossen bleibt.

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Chris the Swiss | Film | Anja Kofmel | CH-HR-DE 2018 | 90’ | Locarno Festival 2018, Festival Fantoche Baden 2018

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First published: August 03, 2018