Ana Vaz at Videoex Zurich

Filmexplorer has invited Dennis Vetter from Berlin Critics’ Week to follow Ana Vaz’ film programme at the festival Videoex in Zurich. Here are some critical reflections as starting point for an open discussion - see also Filmexplorer's review and podcast on her «E noite na America»

Selbstgespräche – Begegnungen mit den Filmen von Ana Vaz

Einer der Filme von Ana Vaz endet mit einem Song: «I prefer to be that walking metamorphosis instead of having fixed opinions about everything.» Zuvor sind ganz unterschiedliche Protagonist*innen zu sehen. Jugendliche, mit denen die Filmemacherin in Dialog tritt auf Grundlage eines gemeinsamen Workshops. Die Gespräche in der Gruppe haben ein Ziel: den Bildern auf die Schliche kommen, noch während sie entstehen. Das Kino ergründen im Selbstversuch. Über eine halbe Stunde hinweg fallen viele überraschende Sätze, doch scheitern alle Bemühungen, eine taktgebende Wahrheit aufzuspüren. Ein vorprogrammiertes Scheitern in sonnigen, urbanen Bildern, das alle Beteiligten zu geniessen scheinen. Man ist sich einig, sich über das Kino uneinig zu sein.

Die Metamorphose der Form und der freie Fluss des Denkens sind hier Programm, ästhetisches und poetisches Leitmotiv.

Im Programmschwerpunkt des diesjährigen Videoex-Festivals zur brasilianischen Künstlerin Ana Vaz war 13 Ways of Looking at a Blackbird der menschlichste Film, gleich in mehrfacher Hinsicht. Es ist zunächst einmal ein Film, der durch Menschen und deren Vernunft getragen wird. In keinem anderen gezeigten Film erhalten Personen so viel Raum vor der Kamera. Und nie sind konkret menschliche Interpretationen der Welt, überhaupt Deutungen durch Sprache und Rhetorik, als Sinnelemente so zentral. Der Film bleibt bei aller Verspieltheit immer greifbar, weil hier viel gesprochen wird und weil alle Sprechenden immer wieder in Regungen sichtbar werden. Besonders eindrücklich etwa spricht ein junger Mann am Beispiel von Tornados und Windböen über das Unsichtbare. Vaz offenbart nach und nach immer deutlicher, wer am Film beteiligt ist. Ihr Film legt seine Gemachtheit stets offen, lädt dazu ein, seine Strukturen, Deutungsweisen und Kameraperspektiven zu befragen. Die Metamorphose der Form und der freie Fluss des Denkens sind hier Programm, ästhetisches und poetisches Leitmotiv. Entsprechend soll auch das Publikum das eigene Sehen während des Films befragen lernen.

In den restlichen Filmen der Regisseurin weht ein anderer Wind, diese sind widerspenstiger, verschachtelter und zumeist weniger klassisch dokumentarisch. Menschen werden dann schon mal komplett durch Felsen ersetzt, begleitet von einem abstrakten Gleichnis über Körperlichkeit. Dokumentarische Aufnahmen werden bei Ana Vaz nicht selten nahtlos mit vorgefundenem Material vermengt, Gegenwart mit Vergangenheit, Fakt mit Fiktion, das fotografische Bild mit Animation. In einigen Filmen verzichtet die Künstlerin ganz auf Sprache und lässt die Bilder in freien oder essayistischen Montagen und Observationen ein mysteriöses Eigenleben führen. In einzelnen Filmen wie Age of Stone, Ha Terra! oder Occidente verstrickt sie sich in Widersprüche, die keine sein müssen, aber können: Offensichtlich sucht sie in ihrer Arbeit nach Wegen, formalistisches Kino zu machen – möchte jedoch auch ihrer Verantwortung zu einer Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte Brasiliens nicht aus dem Weg gehen. Das Resultat sind im besten Fall Spannungen, die etwa ihren Langfilm It Is Night in America (E noite na America) überraschend leichtfüssig tragen. In dem politischen Essay, das gleichermassen als nahbarer und konkreter Dokumentarfilm über Natur und Zivilisation funktioniert, sind vor allem Tiere zu sehen, die in Stadtgebieten aus ihren Lebensräumen verdrängt werden und immer wieder in Gefangenschaft enden. Occidente ist assoziativ montiert, ständig in Bewegung und kulminiert immer wieder in scharfsinnigen Bildverfahren, wenn etwa eine Hand mit dezenten Kameraschwenks den Horizont vermisst oder Bilder von Statuen ineinander verschmelzen.

Offensichtlich sucht sie in ihrer Arbeit nach Wegen, formalistisches Kino zu machen – möchte jedoch auch ihrer Verantwortung zu einer Auseinandersetzung mit der politischen Geschichte Brasiliens nicht aus dem Weg gehen.

Eine der konkretesten Arbeiten in ihrer Filmografie trägt eine Frage im Titel: Apiyemiyekî? heisst «Warum?» und fungiert als Aufforderung zur politischen Aufarbeitung einer lange unterschlagenen Erzählung. Ana Vaz betrachtet im Film die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur und verarbeitet filmisch eine Reihe brutaler Angriffe auf die indigene Bevölkerungsgruppe der Waimiri Atroari während eines Autobahnbaus in den 1970er-Jahren. Vaz nutzt als konkretes visuelles Material ihres Films Zeichnungen und Wortäusserungen, die Mitglieder der Waimiri-Atroari-Siedlungen rund zehn Jahre später im Zuge eines Regierungsprogramms zur Aufarbeitung der Verbrechen anfertigten. Die Bilder selbst wurden zu Beweismitteln in einem Gerichtsprozess, das erläutert unmissverständlich ein Text zum Ende des Films. Ana Vaz konfrontiert mich mit der Frage, ob die historischen Beweismittel heute für eine filmische Spurensuche funktionieren können und welche ästhetischen Schritte aus diesem Bildmaterial folgen können – oder müssen. Als Zuschauer ohne Brasilienbezug, der die Geschichte und die Zeichnungen nicht in Verbindung bringen kann, ringe ich im besten Sinne mit dem Film, der seine Quellen zunächst im Dunkeln lässt. Vaz legt die Skizzen der Papierseiten wie eine Maske auf die Aufnahmen ihrer Kamera, so erscheinen aktuelle Eindrücke von Natur und Stadt wie gefiltert durch die Erinnerungsbilder von gestern. Das funktioniert als Idee, visuell bleibt der Film etwas frustrierend und zweidimensional.

Noch Stunden nach dem letzten Film kann ich mich von Ana Vaz und ihrer Kunst gedanklich nicht befreien. Die drei Programme des Festivals fordern mich in einem Moment heraus, bezaubern mich im nächsten und stossen mich dann unvermittelt in einen Trancezustand zwischen Halbschlaf und pflichtbewusster Wachheit. Im Kern meiner traumwandlerischen Begegnung mit acht der beim Festival gezeigten Filme steht eine Erfahrung der Entfremdung, ausgelöst von Plattitüden wie «What I feel is without time and without space», die die Filme in poetischen Sequenzen regelmässig durchziehen. Sätze wie diesen zu verdauen, fällt mir ebenso schwer, wie das Konzept einer «wandelnden Metamorphose» ohne Haltung als Antwort auf eine Gegenwart zu sehen, die klare Positionen nun eben einmal unvermeidbar macht. Die durchkomponierten Filme von Ana Vaz bestechen durch eine autoritäre Strenge, entziehen sich dabei aber greifbaren politischen Positionierungen und verschleiern konsequent die Sprecherinnenposition der Künstlerin. Videoex beschreibt ihre semibiografische Poetik in Bezug auf ihren frühen Film Sacris Pulso als Auslotung «kollektiver Erinnerung»: Vaz verschiebe in ihrem Film «den Fokus von ihrer eigenen Geschichte hin zu allgemeineren kollektiven Ritualen». Eine Methodik, die sie weiter zuspitzen wird, bis ihre Subjektive in späteren Arbeiten kaum noch erkennbar ist.

Bildpolitisch verweigert sie konfrontatives Material, selbst bei drastischen Themen wie Tierethik und Völkermord, als wäre ihre Poetik einer Art Sauberkeit des Bildrepertoires verpflichtet.

Es überrascht mich, dass die Filme von Ana Vaz vielerorts als in besonderem Masse politisch beschrieben werden, obwohl die auffällige Abwesenheit der Künstlerin aus ihren filmischen Texten nahezu undurchschaubar macht, was in ihrer Praxis politisch tatsächlich auf dem Spiel steht. Faktisch montiert Ana Vaz auf hohem Niveau reflektierte, aber völlig unverfängliche Stellungnahmen zur Aufarbeitung der Kolonialvergangenheit, stellt die Position des Menschen sowie Blickregimes infrage und ergreift Position für den Naturschutz. All das sind edle Ziele. Akteur*innen und Behörden benennt sie in den beim Festival gezeigten Filmen jedoch praktisch nicht und spart etwa Bezüge zur aktuellen Politik der brasilianischen Regierung auch in der Zeit vor den Repressionen unter Bolsonaro konsequent aus. Bildpolitisch verweigert sie konfrontatives Material, selbst bei drastischen Themen wie Tierethik und Völkermord, als wäre ihre Poetik einer Art Sauberkeit des Bildrepertoires verpflichtet. Ana Vaz operiert, zumindest lassen das ihre Filme vermuten, in einem moralisch einwandfreien und geschmackssicheren Feld der Kunstproduktion, das Zeigeverbote konsequent intakt lässt und weder Kunsträume noch deren Publikum mit unbequemen Fragen zurücklassen wird. Die Künstlerin hatte früh in ihrer Karriere Zugang zu Institutionen wie Le Fresnoy und arbeitet heute mit der Unterstützung grosser Förderer und Häuser wie der Film Society at Lincoln Center, Sundance und Light Cone, sie bewegt sich zwischen Portugal, Frankreich und Brasilien. Ihre Position zu den ehemaligen Kolonialländern spart sie in den bei Videoex gezeigten Filmen jedoch aus – lediglich in Occidente findet eine abstrakte und schwer zu entschlüsselnde Verhandlung der portugiesischen Kolonialherrschaft statt.

Letztlich dominiert in ihren Arbeiten jedoch das Aufeinandertreffen einer politischen Prämisse und einer theoretischen, hermetischen und unverbindlichen Poetik.

Als «wehrhafte Kunst» bezeichnet der Autor Max Czollek eine Kunst, in der die Wehrlosen wehrhaft werden und diejenigen eine Stimme erhalten, deren soziales und physisches Überleben unmittelbar bedroht ist. Kunst wird darin zur Praxis, die das eigene Überleben sichert, durch die gesellschaftliche Aukteur*innen sichtbar und handlungsfähig werden. In It Is Night in America oder Apiyemiyekî? berührt Ana Vaz diese gegenwartskritische Sphäre der Kunst, indem sie mit poetischen Mitteln und aus ihrer privilegierten Position heraus denen eine Stimme verleiht, denen internationale Kunsträume verschlossen sind. Letztlich dominiert in ihren Arbeiten jedoch das Aufeinandertreffen einer politischen Prämisse und einer theoretischen, hermetischen und unverbindlichen Poetik. Ana Vaz verankert ihre Filme und ihre Praxis ausdrücklich in politischen Zusammenhängen, spart jedoch direkte politische Verweise und Konfrontationen aus unerfindlichen Gründen aus. In einer Zeit extremer Klassengegensätze und Gewaltrealitäten erscheint das unnötig passiv, manche mögen es als opportunistisch sehen, auch im Verhältnis zu wagemutigeren und agitativen brasilianischen Filmessays der jüngeren Vergangenheit – etwa den Filmen von Rodrigo Ribeiro-Andrade, der vor unangenehmen Bildern der brasilianischen Geschichte nicht zurückschreckt, sondern aus diesen heraus seine filmische Methodik entwickelt. Aktuelle soziale Ungleichheit und seine eigene Sozialisation kommentiert Affonso Uchoa, etwa in Sete Anos em Maio oder Vizinhança do Tigre. Im Dokumentarfilmbereich machen Isael und Sueli Maxakali aus indigener Perspektive und mit grossem Risiko andauernden Rassismus und Unterdrückungsverhältnisse sichtbar.

Mir liegt nichts ferner, als dem brasilianischen Kino eine Verpflichtung zum politischen Stil nahezulegen. Ganz im Gegenteil sollte jedem einzelnen filmischen Stil die Freiheit zugestanden sein, die nötigen Mittel zu entdecken. Meine Fragen an das Kino von Ana Vaz rühren aus einem konkreten Unverständnis heraus, meiner Unfähigkeit, mit ihren Filmen einen Dialog zu finden: So fühlt sich ihre Filme zu sehen für mich an, wie mit einer Person zu diskutieren, die ein politische Frage aufwirft und dann im Gespräch nur noch Donna Haraway zitiert. Ihre filmischen Entwürfe scheinen Unsicherheiten zu verdrängen. Die Montagen sind geschlossen, lückenlos und engmaschig. Beim Sehen vermisse ich die Gefahr, die stets von einem Kino ausgeht, das mich heimsuchen und verändern will. Ich erlebe die Poetik von Ana Vaz als eine Poetik ohne Zweifel, ohne Drastik, ohne Krisen – in einer Welt voller Zweifel, Drastik und Krisen. Manche mögen ihre kalkulierten Filme als legitime Antwort auf eine Zeit der sich zuspitzenden Konflikte erleben. Ganz zweifellos bieten sie eine Antwort auf ein Übermass an Menschenbildern im Kino. Ich sehe hin und fühle mich entrückt von der Welt, die Ana Vaz mir zeigt. Als wäre ihre Welt nicht auch meine. Was bleibt, sind Selbstgespräche. Und ein Gleichnis aus ihrem Film Age of Stone:

«If you repeat the word ‹body› many times it ceases being ‹body› and transforms itself into something else… voluminous, grey.»

Ein Verfahren, das auch für das Kino gilt?

 

Info

Ana Vaz | Artist Focus at Videoex Zurich 2023

More Info on Ana Vaz’ films in the festival programme

Read the review and the podcast about her E noite na America

First published: June 13, 2023