La tortue rouge

[…] Im Zentrum von «La tortue rouge» steht denn auch die Beziehung zur Natur, das Einschwingen auf den Rhythmus der Insel, deren Gleichgültigkeit gegenüber
dem Menschen immer wieder in statischen Totalen zum Ausdruck kommt. Interaktionen von Krabben, Vögeln und Fischen erinnern zudem an die Zufälligkeit von Schicksal und Tod als natürliche Elemente im Kreislauf des Lebens.

[…] Ebenso minimalistisch wird jede Szene von höchstens zwei Farbtönen dominiert, wobei der Film bis zum Schluss mit immer neuen Farb- und Lichtstimmungen überrascht. Das Spiel von Licht und Schatten ist seit jeher Dudok de Wits liebste visuelle Inspirationsquelle.

[…] Obwohl «La tortue rouge» wie ein vergessener Mythos der Menschheitsgeschichte wirkt, handelt es sich dabei um einen Originalstoff aus der Feder des Regisseurs. Entgegen allen Drehbuchregeln wird die Handlung stärker von äusseren Faktoren als von zwischenmenschlichen Konflikten bestimmt.

Text: Oswald Iten

Ein Schiffbrüchiger, der in der Nacht zuvor von riesigen Wellen angeschwemmt wurde, wacht erst auf, als sich eine Krabbe in sein weisses Hosenbein verirrt. Indem uns der niederländische Animationsfilmer Michael Dudok de Wit den gestrandeten Mann relativ klein in der unteren Hälfte einer komplett sandfarbigen Halbtotale zeigt, etabliert er die Körpersprache als zentrales Ausdrucksmittel seines dialoglosen Zeichentrickfilms La tortue rouge. Weil wir den Protagonisten jedoch von schräg oben sehen, liegt der Horizont ausserhalb des Bildrands, sodass trotz der Distanz nicht zu erkennen ist, wo er sich befindet. Umgebung und Raum werden einzig von graugrünen Algen am unteren Bildrand angedeutet. Diesen wiederkehrenden, von japanischen Holzdrucken bekannten Blickwinkel nutzt Dudok de Wit geschickt zur visuellen Spannungserzeugung. Oft folgt der Umschnitt auf die Sicht des Mannes nämlich mit einiger Verzögerung, nachdem die Tonspur unsere Erwartungen bereits in eine bestimmte Richtung gelenkt hat. Hier hören wir beispielsweise zuerst Möwen, bevor wir mit dem Protagonisten die dichtbewaldete Küste einer einsamen Insel erspähen. Während Dudok de Wits frühere Kurzfilme massgeblich von durchgehenden Musikstücken bestimmt waren, lenken die musiklosen Anfangsszenen seines ersten Langfilms unsere Aufmerksamkeit auf die reichhaltigen Umgebungsgeräusche.

Im Zentrum von La tortue rouge steht denn auch die Beziehung zur Natur, das Einschwingen auf den Rhythmus der Insel, deren Gelcihgültigkeit gegenüber dem Menschen immer wieder in statischen Totalen zum Ausdruck kommt. Interaktionen von Krabben, Vögeln und Fischen erinnern zudem an die Zufälligkeit von Schicksal und Tod als natürliche Elemente im Kreislauf des Lebens. Die eigentliche Handlung konzentriert sich auf das Wesentliche: Nahrungssuche, Erkundung der Insel, Schutz vor Wind und Wetter. Dennoch gelingt dem Regisseur und seiner dramaturgischen Mitarbeiterin Pascale Ferrand ein wunderbar süffiger Erzählfluss. Mit traumwandlerischer Sicherheit unterbrechen sie die elliptische Erzählweise immer wieder für ausführliche Beobachtungen von Alltagshandlungen, die den Protagonisten vage charakterisieren.

In die Vorgeschichte des namenlosen Schiffbrüchigen erhalten wir indes ebenso wenig Einblick wie in sein Innenleben. Der semirealistisch gezeichnete Mann wirkt eher wie ein Archetypus als ein Individuum. Wie schon in seinen Kurzfilmen Le moine et le poisson (1994) und Father and Daughter (2000) vermittelt Dudok de Wit Gefühle auch hier lieber mittels Körpersprache, Bildkomposition und Beleuchtung. Während sich sein Zeichnungsstil bei Father and Daughter mit unterschiedlich breiten Linen noch stark an asiatischer Kalligraphie orientierte, entschied sich der Zeichner bei La tortue rouge für die gleichmässige ligne claire, wie sie der Animationspionier Winsor McCay oder der Tintin-Erfinder Hergé verwendet hatten. Die dadurch möglich gewordenen Details setzt er jedoch so sparsam ein, dass die auf klare Formen reduzierten Bildkompositionen nie von den Gesten der Figuren ablenken. Auch in diesem realistischen Stil arbeitet er mit Leerstellen und Andeutungen. Oberfläche und Tiefe des klaren Wassers etwa werden fast ausschliesslich von Spiegelung und Schatten definiert. Ebenso minimalistisch wird jede Szene von höchstens zwei Farbtönen dominiert, wobei der Film bis zum Schluss mit immer neuen Farb- und Lichtstimmungen überrascht. Das Spiel von Licht und Schatten ist seit jeher Dudok de Wits liebste visuelle Inspirationsquelle. In La tortue rouge dienen Länge und Kontrast der Schatten unter anderem zur präzisen Vermittlung von Wetter und Tageszeit.

Dass es dem Perfektionisten gelang, seine persönliche Handschrift trotz Zwang zur Teamarbeit derart konsequent in einen Langfilm zu überführen, ist nicht zuletzt das Verdienst seiner japanischen Schirmherren. Während Prima Linea Productions die eigentliche Animation unter der Leitung von Jean-Christophe Lie in Angoulême ausführte, sorgten mit Suzuki Toshio als Produzent und Takahata Isao als künstlerischer Berater zwei Schwergewichte des japanischen Studio Ghibli für die kompromisslose Umsetzung der Vision des Regisseurs. Sie hatten den zurückhaltenden Niederländer ursprünglich überhaupt dazu überredet, für ihre erste internationale Koproduktion einen Langfilm zu entwickeln. Thematisch und stilistisch stehen Dudok de Wits von Sehnsucht und spiritueller Suche handelnde Kurzfilme und Werbespots den Ghibli-Werken sehr nahe. Egal, ob ein Mönch auf der Jagd nach einem Fisch sein Kloster hinter sich lässt oder eine Tochter ein Leben lang an jenen Ort zurückkehrt, wo sich der Vater einst für immer von ihr verabschiedete – stets prägen handlungsarme Stimmungsbilder die animistisch anmutende Atmosphäre: vom Wind bewegte Blätter, plätscherndes Wasser und immer wieder der Blick in den Himmel, die Sonne, die Wolken.

Der gewagte Verzicht auf emotionalisierende Nahaufnahmen der Gesichter und das anfängliche Fehlen menschlicher Beziehungen mag die affektive Zuschauerbindung in La tortue rouge erschweren. Die sinnlichen Reize halten das Interesse am Geschehen jedoch mindestens solange wach, bis die Dramaturgie mit einem Suspense-Moment eine willkommene Einladung zur Identifikation bietet: Nach einem Fehltritt findet der Mann sich unversehens in einem von Felswänden umschlossenen Teich wieder. Als ihm und uns dämmert, dass er sich nur durch einen engen Spalt unter Wasser retten kann, ist zudem erstmals Musik zu hören.

Anschliessend setzt der Protagonist alles daran, die Insel zu verlassen. Doch ein ums andere Mal wird sein Bambusfloss von einer grossen roten Schildkröte versenkt. Dieses enigmatische Tier mit den anmutigen Bewegungen und den ausdruckslos schwarzen Augen bringt den Protagonisten schliesslich in unerwarteter Weise nachhaltig von seinem Ziel ab. Weil uns der Film zuvor mit schauderhaft schönen Traumsequenzen auf magische Erscheinungen vorbereitet hat, akzeptieren wir diesen phantastischen Wendepunkt als organischen Teil einer subjektiven innerfilmischen Realität. Dank der Begegnung mit einer Frau versöhnt sich der Mann bald darauf mit seiner Situation und gründet eine Familie.

Obwohl La tortue rouge wie ein vergessener Mythos der Menschheitsgeschichte wirkt, handelt es sich dabei um einen Originalstoff aus der Feder des Regisseurs. Entgegen allen Drehbuchregeln wird die Handlung stärker von äusseren Faktoren als von zwischenmenschlichen Konflikten bestimmt. Dafür gelingt es den Filmemachern, universelle menschliche Erfahrungen und Entwicklungsschritte auf den Punkt zu bringen. Wie sehr man sich von den Figuren berühren lässt, hängt deshalb stark davon ab, ob man in ihrem Umgang mit existenziellen Situationen eigene Verhaltensmuster wiedererkennt. Beim ersten Annäherungsversuch an die im Meer stehende Frau legt der Mann beispielsweise zuerst unsicher sein Hemd an den Strand und zieht sich dann zaghaft ins Dickicht zurück, um ihr und sich etwas Zeit zu geben. Als er wieder herausrennt, ist sie verschwunden. Bevor er sich beim erneuten Treffen jedoch endlich getraut, der in sein Hemd gekleideten Frau ins Wasser zu folgen, muss er noch letzten Ballast abwerfen.

All dies geschieht in vibrierender Stille anhand subtil animierter Gesten, wie man sie in dieser konstanten Qualität nur selten sieht. Laurent Perez Del Mars eng mit dem Sound Design verwobene Musik setzt erst als eine Art Nachklang der visuell kommunizierten Gefühle ein, als sich der Protagonist der Schwerelosigkeit unter Wasser hingibt und sich von der Frau (ver) führen lässt. Wie schon in Le moine et le poisson steht die Überwindung der Schwerkraft im Zusammenhang mit innerer Ausgeglichenheit. In La tortue rouge öffnet die Verbindung von Schwerelosigkeit und Wasser als Element der Frau einen zusätzlichen Bedeutungsraum. Wenn sich in besonders intensiven Momenten dieses Schwebezustands Julia Wischniewskis majestätischer Sopran über das orchestrale Crescendo legt, scheint gar die Zeit stillzustehen.

Neben solch sinnlicher Überwältigung gelingt es Dudok de Wit, mit visuellen Metaphern an die grossen Fragen des Lebens zu rühren, ohne die Gedanken mit vereinfachenden Erklärungen abzuwürgen. So fallen Spuren im hohen Gras erst auf, als der Mann nicht mehr allein ist. Ebenso sehen wir den vormals vollen Mond aus der Perspektive des von Fernweh geplagten Sohns nur noch als Sichel. Veränderungen im Aussehen der Figuren geschehen meist zwischen den Bildern und regen damit unsere Phantasie an. Wer sich auf sie einlässt, wird sich der poetischen Magie dieses atemberaubend schönen Zeichentrickfilms kaum entziehen können.

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In collaboration with Filmbulletin

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La tortue rouge | Animation | Michael Dudok de Wit | FR-JPN 2016 | 80’ | 14. Internationales Festival für Animationsfilm Fantoche Baden 2016

Special Prize “Un certain regard” at Festival de Cannes 2016

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First published: September 11, 2016