Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien

[…] Böhlers Film versteht es nicht nur virtuos, die Stimmenvielfalt des Schlingensief-Komplexes nachzuzeichnen – gerade indem sie Schlingensief mit Schlingensief verschaltet und die vielen Schlingensiefs einander ins Wort und ins Bild fallen lässt –, sondern auch versteckt, aber insistent bestimmte ästhetische, auch musikalische Strukturprinzipien zur Wirkung zu bringen.

Dieser Artikel ist ein Auszug von Matthias Wittmanns essay «Schlingensief 2020: Die Kontamination bleibt» (in FORUM - ESSAYS)

Der Schlingensief-Komplex

«Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so! – ‹Erinnern heisst: Vergessen!› (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)», lautet Christoph Schlingensiefs letzter Blog-Eintrag, datiert vom 7.8.2010. Ein paar Tage später erliegt er seiner Krebserkrankung in Berlin. Die Übermalung, Überblendung – als Ineinander von Erinnern und Vergessen – ist ein wiederkehrendes Motiv in Bettina Böhlers virtuos montiertem Dokumentarfilm Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien, der mehr ist als ein blosser Nachruf oder eine devote Nachlassverwaltung. Böhler – sie hat Filme von Christian Petzold, Oskar Roehler, Angela Schanelec, Dani Levy, Margarethe von Trotta und eben auch zwei von Christoph Schlingensief mitgestaltet (Terror 2000 – Intensivstation Deutschland; Die 120 Tage von Bottrop) – hat sich von Schlingensiefs künstlerischem Prinzip, Anschlussstellen durch Überblendungen zu multiplizieren, inspirieren lassen und mit einem erstaunlichen Sensorium für Synapsen einen Weg durch ein überbordendes Dickicht an O-Tönen, Filmszenen, Aufzeichnungen von Strassenaktionen und Theaterstücken (resp. -proben), privaten Filmaufnahmen (8mm) und Fernsehproduktionen, Talkshows und Interviews gefunden, wobei hier die Präsenz von Alexander Kluge als Gegenüber auffällt.

Die Arbeit einer Filmeditorin besteht darin, unaufhörlich Entscheidungen treffen und damit Möglichkeiten reduzieren zu müssen. Böhler hat die richtigen Entscheidungen getroffen, wobei ihre Strukturprinzipien alles andere als aufdringlich sind. Dass Schlingensiefs “Theater der Handgreiflichkeit” höchst anschliessbar an unsere Gegenwart bleibt, zeigt Böhler gleichsam nebenher und ganz unprätentiös auf, ohne uns diese Frames, Kontexte und Kontaktpunkte aufzuzwingen. Ich möchte es als grossen Vorzug des Films sehen, darauf verzichtet zu haben, Schlingensiefs Vermächtnis durch den Fleischwolf aktueller – mehr oder weniger «woker» – Feuilletondebatten gejagt und dadurch einordnungsbar gemacht zu haben: Mansplaining mit Megafon? Cis-Wohlstands-Kunst? Appropriation? Unsafe Spaces ohne Triggerwarnungen? Vielleicht alles ein bisschen sehr eng gefasst, um den von Schlingensief hinterlassenen Steinbruch zu fassen. Trotzdem schafft es der Film, uns dazu zu bringen, unaufhörlich Überblendungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu generieren. Wir dürfen uns in Ambiguitäten hineinziehen lassen, in einen sehr gekonnt montierten Strudel aus einander widersprechenden Stimmen, und uns dabei zusehen, wie diese vergangenen Debatten aktuell auf uns wirken, das heisst auch: wie die aktuellen Debatten unseren Blick auf die vergangenen Aktionen verändert haben. Hierbei können wir einerseits feststellen, wie viel sich seitdem verändert hat. Andererseits können wir merken, wie sehr der Schlingensief-Komplex fehlt und wie viel er uns über gegenwärtige Sensibilitäten und Konfliktlinien erzählt. Dies erreicht Böhlers Dokumentarfilm bemerkenswerterweise ganz ohne Interviews mit Menschen, die Schlingensief er- und überlebt haben und ihn nun erinnern, «anhimmeln».

Ich spreche aus mehreren Gründen von einem «Schlingensief-Komplex»: Komplexe sind komplexe Umwandler und Übersetzer, die verschiedene Felder und Diskurse verbinden. Sie sind assoziativ. Komplexe sind Dispositive, heterogene Ensembles, die auf Krisen reagieren und intervenieren. Komplexe sind Macht und Gegen-Macht zugleich, Widerstandspunkte, -knoten und -herde zwischen Krankheit und Heilung. Are we part of the desease or part of the cure? Schlingensief war nicht nur Ministrant, er war auch Apothekersohn aus Oberhausen und sprach viel von Gift und Gegengift, Kontamination und Infizierung, Metastasen und Zellen, Parsifal und Wunden, die unerlöst bleiben. Gleichzeitig hat er notorisch oft betont, kein Esoteriker zu sein. Zweifellos hatte Schlingensief einen Hang zum Sektenguru und Prediger, der einem bestimmten «Charismabedürfnis» (Diederichsen) entsprochen hat und diesem gegenwärtig auch immer noch – mehr denn je? – entsprechen würde. Und wenn es etwas gibt, das aus heutiger Perspektive tatsächlich etwas befremdlich, ja auch abgestanden wirkt, dann ist es Schlingensiefs Kokettieren mit dem – von Richard Wagner, Rainer Werner Fassbinder, Luchino Visconti, Helmut Berger, Joseph Beuys, Otto Mühl – inspirierten Gesamtkunstwerk-Diktator, der nicht aufhören kann, Naziuniformen zu tragen, bis sich alle Nazimoleküle abgenützt haben. […]

Böhlers Film versteht es nicht nur virtuos, die Stimmenvielfalt des Schlingensief-Komplexes nachzuzeichnen – gerade indem sie Schlingensief mit Schlingensief verschaltet und die vielen Schlingensiefs einander ins Wort und ins Bild fallen lässt –, sondern auch versteckt, aber insistent bestimmte ästhetische, auch musikalische Strukturprinzipien zur Wirkung zu bringen. […]

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Paragraph titles:

Der Schlingensief-Komplex
Mutters Masken als Parodien der eigenen Tragödie
Partituren, Spiralen, Schmorbilder, Überblendungen
Kontamination
Echtheit und Simulation
Fremdton
Die Energie der Bilderstörungsmaschine bleibt

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Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien | Film | Bettina Böhler | DE 2020 | 124’

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First published: August 22, 2020