Henry Brandt | Quand nous étions petits enfants

Der Fotograf und Filmemacher Henry Brandt ist 1921 in La Chaux-de-Fonds im Jura geboren. Anlässlich seines 100. Geburtstages hat das nationale Filmarchiv, die Cinémathèque suisse, seine Filme restaurieren lassen. Das Resultat ist eine wahre Perle der Schweizer Filmgeschichte und war am diesjährigen Locarno Film Festival zu sehen.

Henry Brandt – ein Pionier des Schweizer Films neu entdeckt

Ein kleiner Tümpel mitten im Wald, durchwachsen mit Schilfhalmen und Blättern von Wasserpflanzen. Das intrikate Muster der Natur spiegelt sich im Wasser und ergibt ein Kunstwerk voller Leben. Die Kamera hält still, der Film wird für einen Moment zur Fotografie in Schwarz-Weiss. Für solche künstlerischen Explorationen ist Henry Brandt bekannt, sein fotografisches Auge kam ihm auch beim Filmen zugute. Sein Leben lang hat der Regisseur ausschliesslich Dokumentarfilme gedreht, doch nahm er sich innert der Begrenzungen des Genres immer seine Freiheiten und wurde damit zum Mitbegründer des modernen Schweizer Films.

Quand nous étions petits enfants lautet der Titel einer der drei frisch restaurierten Henry-Brandt-Filme. Brandt hatte den 1961 erschienenen Film im Verlauf eines Jahres gedreht und begleitet darin den Lehrer Charles Guyot bei seiner Arbeit in Taillères, einem kleinen Weiler nahe La Brévine, dem «Sibirien der Schweiz». Es war die Société pédagogique neuchâteloise, die den Filmemacher damit beauftragt hatte, doch gelang es Henry Brandt gleichwohl, ein eigenständiges Kunstwerk daraus zu machen.

«Marcel, le rêveur»

Anhand der vier Jahreszeiten hangelt sich Brandt mit seiner Kamera durch ein ganzes Schuljahr in der kleinen Schulklasse, in der alle neun Stufen der obligatorischen Schule gemischt sind. Lehrer Guyot fungiert als Sprecher; durch den gesamten Film hindurch kommentiert er die von der Kamera eingefangenen Momente auf eine unaufdringliche und gleichzeitig intime Art. Guyot war ein ambitionierter Lehrer, der Tag für Tag sein Bestes versuchte, der Klasse das Lernen zu erleichtern und ihr die Dinge so beizubringen, dass es sie im Alltag tatsächlich weiterbringt. Träumte Marcel, der Träumer, bei der theoretischen Abhandlung der Torfmoore in Ponts-de-Martel vor sich hin, so nahm er die Klasse kurzerhand auf eine Exkursion mit und liess sie selbst schaufeln. Tat sich ein Bauernsohn mit Mathematik schwer, brachte er ihm bei, seine Ausgaben zu berechnen und entsprechende Verkaufspreise zu bestimmen.

«La Suisse, notre pays»

Lehrer Guyot und Regisseur Brandt hatten eines gemeinsam: ihre humanistische, solidarische Grundhaltung. Guyots liebevolle Unterstützung der Schülerinnen und Schüler, seine Leidenschaft für ihr Wohlergehen, sein Verantwortungsgefühl dafür, seine Schützlinge auf ein selbstbestimmtes Leben vorzubereiten. Brandts Blick für selige Kinderaugen, wenn Mama die Ovomaltine aus dem Küchenschrank holt, seine Darstellung der Kinder als solidarische, intelligente Menschen. In Guyots Klassenzimmer wie auch in Brandts Kameraführung steckt ein Liebesbrief an die Menschheit und an die Heimat. Im Zeichen der Nouvelle-Vague-Bewegung unter den französischen Filmemachern entwickelte Henry Brandt seine eigene Handschrift als Regisseur, fernab vom üblichen Format des kitschigen Heimatfilms oder dem kommerziellen Fokus Hollywoods, und wurde mit seiner poetischen Bildsprache zum Pionier des Schweizer Films.

«C’est beau, la vie»

Doch in einem Liebesbrief steckt manchmal auch ein Stück Wehmut. Das Schuljahr entspricht den vier Jahreszeiten, und das bedeutet vor allem eines: Irgendwann geht es zu Ende und beginnt wieder von vorne. Neue Gesichter kommen, alte gehen. Beim Abschied verdrückt man vielleicht ein Tränchen, aber das ist schnell vergessen, wenn am nächsten Tag der Ernst des Lebens beginnt. Die Schule ist ein geschützter Raum, ein Experiment, und selbst der beste Lehrer kann einen nicht auf alles vorbereiten, was das Leben zu bieten hat. Lehrer Guyot aber weiss, er hat alles in seiner Macht Stehende getan und kann sich mit reinem Gewissen den «Petits» der neuen Generation zuwenden. Wenn er seine Schützlinge eines gelehrt hat, dann, wie schön das Leben sein kann. «C’est beau, la vie.»

Quand nous étions petits enfants ist ein liebevolles Werk, das einem heutigen Publikum ein Fenster in den Schulalltag der 60er-Jahre eröffnet und durch seinen explorativen Stil den Grundstein legte für künstlerische Freiheit im Schweizer Filmschaffen.

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Screenings at the Solothurner Filmtage 2023

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Quand nous étions petits enfants | Film | Henry Brandt | CH 1961 | 91’

Henry Brandt | Retrospective | Locarno Film Festival 2021, Cinémathèque suisse Lausanne, Solothurner Filmtage 2023

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First published: August 16, 2021