Nuevo orden

[…] Die Gewalt, als sie endlich ausbricht, ist willkürlich und endgültig. Wer stirbt und wer lebt, ist reiner Zufall. Das Chaos, das sich am Ende des Überfalls auf die Villa darbietet, ist nicht jenes einer zielgerichteten Revolution, sondern eher einer implodierten Gesellschaftsform.

[…] Michel Francos Film ist politisch nur in dem Sinne, als er jeglichen Glauben an den politischen Akt verloren hat. Die Revolution verspricht keine Hoffnung mehr, sondern macht alles nur noch schlimmer.

«Eine High-Society-Hochzeit wird von ungebetenen Gästen unterbrochen»: Eine lakonischere Kurzbeschreibung der Handlung von Michel Francos Nuevo orden ist kaum vorstellbar. Lakonisch ist auch die Länge des Films: In bloss 90 Minuten entwirft der mexikanische Regisseur ein dermassen hoffnungsloses Panorama einer Gesellschaft am Abgrund der Gewalt, dass man sich am Ende verwundert die Augen reibt, mit welcher Wucht einem gerade die Illusion geraubt wurde, dass es mit der Menschheit in ihrer aktuellen gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstellung noch zu etwas Gutem kommen wird. Nuevo orden ist unerbittlich, weit jenseits der annehmbaren Grenze des Zynismus und gleichzeitig von einer fast heiligen Wut beseelt. Der von verschiedener Seite angeführte Vergleich mit Michael Haneke ist insofern dann zutreffend, wenn man von dessen Werk alle gesittete wienerische Hochnäsigkeit abzieht und dessen misanthropische Grundhaltung durch 200 Jahre koloniale und neoliberale Gewaltgeschichte schleift.

Am Anfang dominieren die Farben Grün und Rot. Grün ist die allgegenwärtige Flüssigkeit, welche die Demonstranten überall symbolisch hinschmieren – auf die Wände, auf die Strassen, auf die toten Körper. Rot ist das Blut, das in Strömen fliesst. Trotz dieser Verweise während der ersten irritierenden Bilder auf eine pervertierte mexikanische Flagge lässt sich Nuevo orden fast nur universell lesen. Die Einkommensverteilung beziehungsweise die Schere zwischen Arm und Reich ist in Mexiko kaum grösser als anderswo. Auch die extremen Ausprägungen einer vom Rassismus gezeichneten Zweiklassengesellschaft sind nicht einzigartig. Vielleicht ein bisschen weiter fortgeschritten als in den USA oder in Europa, aber das ist alles. Gated Communities mit privatem Wachpersonal, starke Präsenz eines korrupten Militärs, das darüber hinaus nur allzu gerne auf eine neue Gelegenheit zur faschistischen Machtübernahme wartet, gibt es immer an mehr Orten. Das Pulverfass steht hier einfach bereits ein bisschen knapper vor der Explosion. Eifrig befüllt werden diese aber auch anderswo.

Die erste Hälfte ist vergleichsweise friedlich. Besagte Hochzeit findet fast reibungslos statt, ungebetene Gäste gibt es vorerst keine. Mit den Figuren braucht man sich in diesem Film – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – nicht weiter aufzuhalten oder gar anzufreunden. Denn die Gewalt macht hier keinen Unterschied zwischen den spärlich gesäten Sympathieträgern und den symbolischen Repräsentanten verschiedener dem Untergang geweihten Klassen. Die wohlsituierten Gäste beklagen sich über Probleme am Flughafen wegen der anhaltenden Demonstrationen, ein wenig grüne Protestfarbe muss aus einem Kleid gewaschen werden. Ein Mann mit Schnauzer und offenbar guten Verbindungen zu Regierung und Militär wird unterwürfig begrüsst; aus einem Wasserhahn fliesst für einen kurzen, verstörenden Moment grünes Wasser. Die Angestellten, deren Haut durchgehend ein paar Farbtöne dunkler als jene der Gäste, rennen eifrig dienend umher, gefangen zwischen Hass und Abhängigkeit. Dann der erste ungebetene Gast: ein ehemaliger Angestellter, der finanzielle Hilfe für seine Frau braucht, die während der in Gewalt umschlagenden Demonstration aus dem Krankenhausbett getragen wurde. Jetzt braucht sie dringend neues Geld für eine Herzoperation, sonst stirbt sie. Die Brautmutter versucht ihn mit einem Bruchteil der nötigen Summe abzuspeisen. Worauf die Braut, als sie davon erfährt, ihre eigene Hochzeit verlässt, um dem armen Mann das nötige Geld zu bringen, das seinerseits einen Bruchteil dessen darstellt, was in Umschlägen im Safe lagert, Einkünfte von der Hochzeit. Der einzige fürsorgliche Akt bisher, welcher der Braut das Leben rettet, vorerst.

Die Gewalt, als sie endlich ausbricht, ist willkürlich und endgültig. Wer stirbt und wer lebt, ist reiner Zufall. Das Chaos, das sich am Ende des Überfalls auf die Villa darbietet, ist nicht jenes einer zielgerichteten Revolution, sondern eher einer implodierten Gesellschaftsform. Ab jetzt kennt die Gewalt keine Einschränkungen mehr. Das Militär springt in die Bresche, sorgt für illusorische Sicherheit; ein paar Wochen vergehen. Die Arbeiterklasse wird noch mehr drangsaliert als vorher, in das Machtvakuum tritt die Herrschaft des Gewehrs und der Folter. Die hilfsbereite Braut wird von korrupten Soldaten entführt, mit anderen zusammen eingesperrt und missbraucht. Der Tod findet jetzt weniger willkürlich statt als vorher, aber mit einer zynischen Beiläufigkeit, die einem den Atem raubt.

Michel Francos Film ist politisch nur in dem Sinne, als er jeglichen Glauben an den politischen Akt verloren hat. Die Revolution verspricht keine Hoffnung mehr, sondern macht alles nur noch schlimmer. Francos einzige Überzeugung scheint zu sein, dass der Mensch verloren ist. Die Darstellungen der von allen Parteien begangenen sadistischen Handlungen sowie vor allem jene von Misshandlungen hauptsächlich von Frauen, machen seinen Kritikern den Vorwurf der reaktionären und misogynen Effekthascherei etwas gar leicht. Ganz von der Hand weisen lässt sich dieser zwar nicht, aber der Film wirkt generell zu gewissenhaft konstruiert und gleichzeitig zu unmittelbar in seiner Wut, als dies seiner Wirkung irgendeinen Abbruch tun könnte. Denn auch wenn die Versuchsanordnung in ihrer Kompromisslosigkeit mehr als Dystopie angelegt ist denn als Gegenwartsanalyse, ist die Nähe zu dieser im Jahr 2020 zu offensichtlich, als dass sie als eine futuristische Gewaltfantasie abgetan werden könnte. Die Bilder sind vor allem deshalb so unerträglich, weil man sie bereits kennt. Aus der Vergangenheit, aus der Gegenwart und aus den Vorstellungen, die man sich daraus für die Zukunft ableitet, die mehr rot als grün sein wird.

 

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Nuevo orden | Film | Michel Franco | MEX-FR 2020 | 86’ | Zurich Film Festival 2020, Filmar en América latina Genève 2021

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First published: October 11, 2020