Nimic

Ein Blick. Mehr nicht. Ein Blick, der das Weltgebäude zum Einstürzen bringt wie ein gesprengtes Hochhaus, das höflich geordnet und gediegen langsam vertikal in sich zusammenfällt, aber dennoch unwiderruflich zerstört ist. Ein Blick, der erst arrogant, dann leicht irre wirkt und schliesslich die ganze Dystopie einläutet.

Er, der diesen unsagbaren Blick inszeniert hat, ist niemand anderes als der griechische Kultregisseur Yorgos Lanthimos, dessen Kurzfilm Nimic heuer Weltpremiere in Locarno gefeiert hat. Gerade noch Oscars gesammelt mit The Favourite, beweist er einmal mehr, wo sein Talent liegt: in kleinen Entkernungen der Realität eines Einzelnen. Doch während deren Welt den Totaleinsturz erleidet, bleibt alles rundum unfassbar unauffällig und gleich. Lanthimos ist meisterhaft in der Inszenierung von Dystopien, die aussehen wie nichts – wie eine Normalität mit Brandlöchern. Und «nichts» bedeutet schliesslich auch der Filmtitel «Nimic» auf Rumänisch. Und wenn man Wikipedia Glauben schenken darf, dann bedeutet das Wort gleichzeitig auch «alles». Und wir sitzen wieder mittendrin in Lanthimos’ Spiel mit der Wahrheit, die brüchig, porös, undurchsichtig wird – wie die Identität des Protagonisten Matt Dillon.

Ein Motiv, das Lanthimos gerne und vielseitig nutzt: die Augen, der Blick, die Sehfähigkeit. Die erste Szene gibt den Blick frei auf eine samtene Augenmaske über den Augen einer schlafenden Frau. Ihr Blick auf die Katastrophe, dass eine Fremde aus der Metro die Rolle ihres Mannes übernimmt, bleibt bis zum Ende getrübt. Sie sieht und fühlt den Rollentausch nicht. Auf die Augenbinde folgt bald der entscheidende Blick in der Metro, wenn der Ehemann eine Fremde (Daphné Patakia) nach der Zeit fragt. Sie ist es, die ihn fortan mit glasigen Augen im Familienleben und auf der Bühne als Cellisten ersetzt. Und niemand sieht es ausser ihm. Parallelen zu The Lobster werden hier offensichtlich: Dort werden Singles aus dem Singlecamp die Augen ausgestochen, wenn sie sich verlieben. Blindheit – fremd  und selbst zugefügte – fungiert in diesem Film als einzige Möglichkeit zum Ausbruch aus der Dystopie. Die Fähigkeit, zu sehen, macht bei Lanthimos noch lange nicht sehend – und das ist ein Faktor, der die Entfaltung seiner Dystopien überhaupt erst ermöglicht.

Dass der Regisseur oft die Fish-Eye-Kamera einsetzt, ist umso spannender: Generiert sie doch Bilder, die am Rande unscharf werden, ausfransen und aufquellen. Auch bedient er diese Kamera hektisch und mit taumelnden Schlenkern. Mit der Musik verfährt er ähnlich – sie sorgt für (ver)störende Dramatik in Momenten der vermeintlichen Intaktheit.

 

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Nimic | Film | Yorgos Lanthimos | DE-UK-USA 2019 | 12’ | Locarno Film Festival 2019

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First published: August 19, 2019