Music

[…] «Music», wahrscheinlich auch Musik, ist beides: Spiegel und Traum. Wenn man sich an nichts anderem mehr festhalten kann, hält man sich an sich selber fest.

[…] Alle filmischen Elemente (ausser der Musik) sind dermassen auf ihr Wesentliches reduziert, dass es wie eine reductio ad absurdum von Robert Bressons Modelltheorie wirkt – bloss dass dieses Absurde von einer Schönheit und einer Kraft ist, die man nicht für möglich gehalten hätte.

Viel Halt bietet uns Angela Schanelec in Music nicht, ausser vielleicht durch die immer mitschwebende extratextuelle Information, dass es sich um eine Behandlung des Ödipus-Stoffes handelt, sowie durch, nun ja, die Musik. Monteverdi, Vivaldi, Bach und anderes Fundamentales. Landschaften auch – zerfurchte, alte, griechische, ganz andere als bei Pasolini. Und Körper und Gesichter, schöne, nicht alternde, selbst bei sehr grossen Zeitsprüngen. Das bedeutet nicht, dass diese Dinge, die andere Filme erden, sich hier nicht zueinander verhalten. Und auch nicht, dass hier bewusst etwas verschwiegen würde. Dass der Film mit Absicht wie ein Rätsel gestaltet wäre. Natürlich bietet er solche allemal. Ein anderes Wort für Spiegel, der letzte Buchstabe ein ο? όνειρο, Traum. Ob Ödipus da auch auf die Lösung gekommen wäre, wenn ihn die Sphinx das gefragt hätte? Besser für alle, wenn nicht, aber das ist eine andere Geschichte bzw. Tragödie, und die wurde bereits erzählt, unendliche Male, auf unendliche Weisen, mit den unterschiedlichsten Interpretationen. Katharsis, Psychoanalyse, Kapitalismus, Schizophrenie, die Geburt der Tragödie, der Geist der Musik usw., wie es mit den Urtexten des Westens halt so ist.

Music, wahrscheinlich auch Musik, ist beides: Spiegel und Traum. Wenn man sich an nichts anderem mehr festhalten kann, hält man sich an sich selber fest, wobei die Chancen auf Erfolg sehr persönlichkeits- und situationsabhängig sind. Soll heissen: Music ist nicht für alle, vielleicht nicht einmal für irgendwas anderes als sich selbst. Das dafür umso mehr.

Michelangelo soll über seine Arbeitsweise gesagt haben, dass er vom Marmorblock einfach all das entferne, was nicht David sei. Kunst als Befreiung im direktesten Sinne. Befreiung vom Überfluss? Music ist ein Film, der quasi aus dem überflüssigen Marmor zusammengebaut ist. Alles was Narrativ, Drama, Dialog, Figurenzeichnung, Humor, Sinn, Erklärung sein könnte, ist weggefallen. Beziehungsweise ist es doch Teil des Films, nur eben bloss im Negativen. Der Anti-Ödipus sozusagen. Oder dessen Traum.

Auf Erklärungen sollte man am wenigsten hoffen; alles (Un-)Wichtige ist bereits da. Das ausgesetzte Kind mit den wunden Füssen (es wird nicht nach diesen benannt werden, sondern sie werden zu ihrem eigenen Zeichen), der getötete Vater, die geheiratete Mutter, die Blindheit, die hier weder Strafe noch Behinderung ist, sondern – ein weiteres Zeichen. Sie ereilt ihn im Warteraum einer Polizeistation, gerade nachdem am Potsdamer Platz ein adretter FDP-Politiker zu Tode gefahren worden ist. Als ob am Ende doch die (poetische) Gerechtigkeit siegen könnte und die wahren Schuldigen bestraft würden.

Man könnte das poetisch nennen, wenn der Film nicht alles dafür täte, alle Bedeutungen zu verschleiern, in dunklen Spiegeln oder Träumen…

Jeder Moment und jede Geste in Music hat eine geheime Bedeutung. Das gilt insbesondere für jene Dinge, die zufällig passieren, unabhängig von der Inszenierung. Zwei sich berührende Hände, ein sehr regelfreies Tischtennisspiel, eine kleine Echse auf einem Felsvorsprung. Man könnte das poetisch nennen, wenn der Film nicht alles dafür täte, alle Bedeutungen zu verschleiern, in dunklen Spiegeln oder Träumen, in denen wir dann wahrscheinlich auch uns selber nicht mehr erkennen können, sondern nur noch das, was nicht wir sind. Zum Beispiel David. Oder Ödipus.

Music ist (offensichtlich) kein Film, der sich schreibend sinnvoll erfassen lässt. Ein analytischer Zugang wäre bestimmt möglich, aber zu welchem Zweck? Ich glaube nicht, dass Angela Schanelec irgendeiner Systematik folgt ausser jener einer radikalen poetischen Abstraktion, die von jedem filmischen Bild nur noch dessen innersten (Marmor-)Kern übrig lässt. Oder dessen Klang vielleicht, frei von Kontext, Rhythmus und Tonlage. Um dann zu demonstrieren, dass der Affekt immer noch da ist, frei schwebend und übertragbar, reiner sogar, nicht gestreckt. Was ja nicht ungefährlich ist, vor allem wenn man sich längst an das Strassenprodukt gewöhnt hat. (Zu dieser Analogie gibt es übrigens keine Entsprechung im Film, von einem Apothekenbesuch abgesehen, bei dem sich jemand mit der rezeptfreien Salbe gegen die Fussschwellung zufriedengibt. Im Übrigen ist es gut möglich, dass Music auf interessante Weise mit psychedelischen Substanzen interagieren würde.)

Damit ich jetzt kein schlechtes Gewissen bekomme und ich von der ästhetischen Radikalität Schanelecs vorerst bloss träumen kann: Music ist, zumindest laut offizieller Synopsis, eine Reimagination des Ödipus-Stoffes, allerdings noch freier und assoziativer, als man das von Schanelec erwarten würde. Die Gesten sind da, die Eckpunkte der Tragödie zumindest angedeutet und in eine Variante der modernen Welt versetzt, in der Schuld und Katharsis keine Rolle mehr spielen und in der Ödipus (hier: Jon) nach Abwicklung der Tragödie seinen Interessen (und väterlichen Pflichten) nachgehen kann. Dass dasselbe für Iokaste (hier: Iro) nicht gilt und diese nach der Entschlüsselung der tragischen Identitäten – es reicht ein Telefonanruf – die immer noch entschiedenste aller Entscheidungen trifft, ist vielleicht traurigerweise gar nicht so unpassend. Alle filmischen Elemente (ausser der Musik) sind dermassen auf ihr Wesentliches reduziert, dass es wie eine reductio ad absurdum von Robert Bressons Modelltheorie wirkt – bloss dass dieses Absurde von einer Schönheit und einer Kraft ist, die man nicht für möglich gehalten hätte. Die Gesichter, Körper und minimalen Bewegungen der Schauspieler:innen hypnotisieren, die Ellipsen entfernen allen Boden, die Musik, schliesslich, lässt einen schweben.

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Screenings at Stadtkino Basel

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Music | Film | Angela Schanelec | DE-FR-GR 2023 | 108’ | Stadtkino Basel

Best Screenplay at the Berlinale 2023

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First published: October 23, 2023