Les paradis de Diane

[…] Eine Begegnung auf Augenhöhe mit einer Figur, die sich allen Rabenmutter-Klischees entzieht.

Es gibt wenige Lebensereignisse, die elementarer sind und doch in Filmen so undifferenziert dargestellt werden wie die Geburt eines Kindes. Das Wunder des Lebens ist fast immer nur positiv. So kennt man die Einstellung, in der eine erschöpfte, aber glückliche Mutter ihr Baby selig entgegennimmt. Es ist eine Trope, die sich in filmischen Erzählungen sowohl als fantastischer Anfang einer Lebensgeschichte als auch als glückliches Ende mit hoffnungsvoller Aussicht eignet. Im Drama Les paradis de Diane ist keines von beidem der Fall. Das Regie-Duo Carmen Jaquier und Jan Gassmann stellt eine Frau in den Mittelpunkt, die nach der Geburt keine Verbindung zu ihrem Kind aufbauen kann. In der Nacht verlässt Diane (Dorothée de Koon) das Zürcher Spital ohne ihr Neugeborenes und begibt sich auf eine Reise an die spanische Ostküste.

Jaquier und Gassmann zeigen eine rätselhafte Frau, die überfordert ist, und muten so ihrem Publikum viel zu. Doch sie nehmen ihre Hauptfigur ernst, kommen ihr auch mit der Kamera sehr nahe und lassen spüren, dass sich hinter Dianes verschlossenem Wesen ein tiefer Abgrund verbirgt. In der Vorbereitung für ihren Film, der noch vor dem Beginn der Corona-Pandemie 2020 zu Ende gedreht wurde, haben sie sich intensiv mit postpartalen Depressionen beschäftigt. Sie sprachen mit über 50 betroffenen Frauen; Ausgangspunkt für Carmen Jaquiers Interesse an dem Thema war das Geständnis einer mit ihr befreundeten Mutter, die auch Jahre nach der schwierigen Phase nach der Geburt noch mit Schuldgefühlen kämpfte. Entsprechend behutsam schickt Jaquier, die das Drehbuch geschrieben hat, Diane auf ihren Weg und fordert ein, dass man ihr mit der grösstmöglichen Offenheit begegnet.

Diane schleppt sich durch die Zeit, sie fährt mit einem Fernbus, geht auf Toiletten auf Autobahnraststätten, weiss eigentlich nicht, wohin, und kommt doch an einem gesichtslosen Ferienort namens Benidorm an, nur um weiterhin rastlos durch die heruntergekommene Partymeile zu streifen. Es ist nie wirklich Tag, mal ist es frühmorgens, oder es dämmert bereits. Die konsequente kühle Bildsprache und auch die eigenwillige Tonebene – eine Trompete, die wie ein nervenaufreibendes blechernes Zirpen einsetzt – komplementieren Dorothée de Koons reduziertes Spiel. Sie trägt die ganze Last der Hauptfigur mit sehr viel Würde und einem Hauch von Zerbrechlichkeit. Diane versteht, dass sie etwas getan hat, das keiner nachvollziehen kann – sie selbst versteht es auch nicht. Doch wird schnell klar, dass sie ihre Familie nicht verlassen hat, weil sie unbedingt nach Benidorm wollte, sondern weil sie sich selbst aus der Situation herausnehmen musste. Ihre blinde Flucht war alternativlos.

Gleichzeitig scheint sie den perfekten Ort gefunden zu haben, denn es ist die Stadt der ewig einsamen, zerstreuungswütigen und selbstvergessenen Seelen. Durch einen Zufall trifft die aus der Romandie stammende Diane eine ältere französische Dame. Rose (Aurore Clément) lebt alleine und zurückgezogen, in ihr findet Diane unerwartet etwas Halt. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich eine Freundschaft, ohne dass sie über ihre Geheimnisse sprechen würden, die sie beide mit sich tragen. Rose ist wie eine ältere Version von Diane, in ihr zeichnet sich Dianes mögliches Schicksal ab. In der Zärtlichkeit und der Fürsorge, die Diane für Rose empfindet, scheint sie wieder einen gütigen Zugang zu sich zu finden. Es ist der erste Schritt zur Heilung von Dianes inneren Wunden, so ist es dann auch Zeit, ihre Weiblichkeit wiederzuentdecken.

Eine interessante Gemeinsamkeit der Regieführenden ist, dass sie sich in ihren Filmen intensiv mit dem Begehren und dem Körper als Teil der menschlichen Erfahrung auseinandergesetzt haben. Carmen Jaquier in Foudre durch die sexuelle Befreiung ihrer jungen Hauptdarstellenden und Jan Gassmann durch seine wiederholte Auseinandersetzung mit Intimität in Partnerschaften (Europe, She Loves, 99 Moons). Auch Diane wird – neben all der Komplexität ihrer Figur – durch ihren Körper erzählt: In der Geburtsszene ertastet sie mit einem Finger das Köpfchen durch ihren halb geöffneten Muttermund; als der Milcheinschuss einsetzt, presst sie mit ihren Händen ihre Brüste aus; als sie einem alkoholisierten Touristen auf sein Zimmer folgt, will sie keinen Sex, sondern sucht einen Kontakt über Berührungen. Kurz vor Ende des Filmes schwimmt Diane nackt in einem zu einer Villa gehörenden privaten Pool. Wie ein kleines Kind weigert sie sich, das Grundstück zu verlassen, bis die Polizei sie aus dem Wasser holt. Vielleicht ist es ein hilfloser und gleichzeitig frecher Versuch, in den mütterlichen Schoss zurückzukehren?

Der Zeitpunkt, zu dem Diane festgenommen wird, stellt einen Wendepunkt in der Erzählung dar, denn jetzt holt sie ihre Vergangenheit endgültig ein. Ihr Partner Martin, feinfühlig und charismatisch verkörpert von Roland Bonjour, kommt nach Spanien, um sie zurückzuholen. Nun wird es Zeit, das Unaussprechliche auszusprechen: Ich bin keine Mutter. Jaquier und Gassmann gelingt es, die so zerrüttete Beziehung, die nur überleben könnte, wenn Diane ihre Mutterschaft antreten würde, ein letztes Mal aufblühen zu lassen. Diane und Martin erleben den schönsten wütend-traurig-trunkenen Abschiedstanz in einer verregneten Urlaubshölle. Doch die grösste Leistung des Filmes ist es, dass Dianes Figur der Raum gegeben wird, sich ihrer selbst zu vergewissern, um letztlich die folgenreiche Entscheidung mit all ihren Konsequenzen auf sich nehmen zu können. Les paradis de Diane bricht das Schweigen im Kino über ein als «Baby Blues» nur allzu schnell verharmlostes Problem, mit dem Frauen bis heute alleingelassen und stigmatisiert werden. Neben dem Druck und den Erwartungshaltungen gegenüber jungen Müttern wird auch ihre Rolle im klassischen Familienmodell hinterfragt. Es ist eine Begegnung auf Augenhöhe mit einer Figur, die sich allen Rabenmutter-Klischees entzieht. Als Diane in einem neuen Licht, an einem neuen Morgen aufwacht, ist Martin wieder abgefahren, nach dem Sturm ist sie alleine. So wie sie es wollte.

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Screenings in Swiss cinema theatres

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Les Paradis de Diane | Film | Carmen Jaquier, Jan Gassmann | Solothurner Filmtage 2024, Berlinale 2024 | CH-Distribution: Outside the Box

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First published: February 21, 2024