Canción sin nombre

[…] Diese eindringliche Kombination aus Wahrem und Sonderbarem, aus Tradition und Moderne, aus Expressionismus und Politik, sowie ein faszinierendes Zusammenspiel aus Wirklichkeitstreue und Kunstfertigkeit sind die Elemente, die Canción sin nombre zu mehr als einem gelungenen Erstlingsfilm macht.

[…] Der düstere, von einem Gefühl des Leidens geprägte musikalische Rahmen, den der peruanische Komponistin Pauchi Sasaki von diesem Moment an über die monochromen Bilder legt, bestimmt fortwährend die Atmosphäre und begleitet das weitere Geschehen auf der Leinwand wie eine böse, Wirklichkeit gewordene Prophezeiung, die sich nicht mehr umkehren lässt.

Text: Pamela Jahn

Zunächst die Fakten: Rekord-Inflation 114,1 %. Preiserhöhungen von bis zu 100 %. Strom- und Wasserkürzungen halten an. Explosionen, Morde, Plünderungen. Dazu die Bilder von Strassenschlachten, Militäreingriffen, Demonstrationen, bewaffneten Widerstandkämpfern und Verwundeten, die auf Bahren durch die verwüsteten Nachbarschaften getragen werden. Noch bevor der Erstlingsfilm der peruanischen Filmemacherin Melina León seine Augen richtig öffnet, ist klar, dass die Geschichte, die sie darin erzählt, in der nicht allzu fern liegenden Vergangenheit ihres Heimatlandes spielt – in einer Zeit, Ende der 80er-Jahre, die beherrscht ist von dem lang anhaltenden, blutigen Konflikt zwischen Militärdiktatur und Guerilla, auch wenn der Film seine politischen Intentionen nach jener eingänglichen Orientierungshilfe vielmehr entschieden indirekt zum Ausdruck bringt, hinter einem Schleier aus immer wieder von der Wirklichkeit abrückenden Bildern voller Poesie, Angst und Melancholie sowie düsteren Landschaftsaufnahmen von mitunter quälender Schönheit.

Stilsicher und mit einem an Béla Tarr und Andrei Tarkowski geschulten Blick begibt sich León mitten hinein in einen ästhetisch elegant in Schwarzweiss gehüllten Alptraum, der bisweilen bestürzend nah am Geschehen ist, um sich anschliessend immer wieder in langen, zum Teil in Slow Motion gefilmten Einstellungen und befremdlichen Bilderwelten zu verlieren. Diese eindringliche Kombination aus Wahrem und Sonderbarem, aus Tradition und Moderne, aus Expressionismus und Politik, sowie ein faszinierendes Zusammenspiel aus Wirklichkeitstreue und Kunstfertigkeit sind die Elemente, die Canción sin nombre zu mehr als einem gelungenen Erstlingsfilm macht.

Die zentrale Geschichte um eine junge Mutter, die einem grossen Schwindel unterliegt und dabei ihr Kind verliert, bildet den narrativen Rahmen, um ein Stimmungsbild zu erzeugen, das tiefer als nur unter die Haut geht, das sich ins Unterbewusstsein einbrennt und sich die Zeit nimmt, sich dort vollständig zu entfalten. Darüber hinaus ist der Regisseurin jedoch auch ein zutiefst menschlicher Film gelungen, der zugleich reale Missstände und Emotionen in seine elegische Erzählweise einspinnt und getrieben von einem imposanten experimentalmusikalischen Überbau zu einem visuell wie akustisch beeindruckenden Ganzen verschmelzen lässt.

Das wird bereits in den ersten zehn Minuten deutlich, in denen León sich viel Zeit nimmt, um die Zuschauer in das von volkstümlichen Ritualen bestimmte Leben ihrer Hauptdarstellerin einzuführen. Ein Leben, das die hochschwangere Georgina (Pamela Mendoza) in ihrer fernab von der Welt gelegenen kleinen Gemeinde 1988 wohl kaum anders gelebt hätte als Jahrzehnte zuvor. Gemeinsam mit ihrem Ehemann Leo (Lucio Rojas) bestreitet sie ein spärliches Dasein nicht weit entfernt von der Hauptstadt Lima, in der sie wenig später in einer dubiosen Klinik ihr Kind gebären wird. Doch kaum ist das Baby von der Nabelschnur der Mutter getrennt, verschwimmt das Bild. «Ein Mädchen», hört Georgina die Schwester noch sagen, doch zu Gesicht bekommt sie ihr Neugeborenes nicht. Als sie nach der Anstrengung aus einem kurzen Schlaf erwacht, wird sie vom Krankenhauspersonal ohne ihr Kind aus der Tür manövriert. Ihre innigen Versuche, unter Tränen erneut um Einlass zu bitten, bleiben vergeblich. Die Leinwand verschwärzt sich zunehmend, unaufhaltsam. Der düstere, von einem Gefühl des Leidens geprägte musikalische Rahmen, den der peruanische Komponistin Pauchi Sasaki von diesem Moment an über die monochromen Bilder legt, bestimmt fortwährend die Atmosphäre und begleitet das weitere Geschehen auf der Leinwand wie eine böse, Wirklichkeit gewordene Prophezeiung, die sich nicht mehr umkehren lässt.

Sicher sind Vergleiche mit Alfonso Cuaróns Roma, wie sie in der Auseinandersetzung mit Leóns Debütfilm häufig fallen, nicht falsch, nur geht die Peruanerin in ihrer Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in ihrer Heimat anders als der mexikanische Regisseur in seinem kunstvoll arrangierten Schwarzweissfilm viel weiter über die Grenzen einer ästhetisch-dramatischen Ausdrucksweise hinaus, sucht sie die Kraft der Bilder in der monumentalen Natur, im Surrealen und Befremdlichen sowie in einem von Angst und Verzweiflung getränkten Klima, das oftmals über die Leinwand hinaus den Raum ergreift.

Zu vielen Worten setzt die Regisseurin, die ebenfalls das Drehbuch verfasst hat, nächtliche Einstellungen im Halbschatten bei Mondlicht oder Kerzenschein entgegen, in denen sich die Protagonisten eher über Gesten und flüchtige Blicke als in langen Dialogen miteinander austauschen. Die innere Unruhe der jungen Mutter, ihr Schmerz und die Hilflosigkeit der Situation finden ihren Ausdruck vor allem in der gramgebeugten Bewegung der Figuren, in den nächtlichen Streifzügen des jungen Paares auf seinen endlosen Wegen in die Stadt und zurück und durch eine Landschaft, die so wie die Behörden, mit denen die beiden im Kampf um das Auffinden ihres Kindes zu tun haben, keine Gnade kennt. Unterlegt und nicht selten getrieben werden die Bilder jedoch stets von einer Musik, ob volkstümlich oder experimentell, mit der León ihren Film zu einem expressionistischen Gedicht formt, an dessen formaler und emotionaler Ausdruckskraft sich das eigene Denk- und Gefühlsvermögen entzündet.

 

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Online streaming at the festival Filmar en América Latina 2020 (20-29/11/2020)

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Canción sin nombre | Film | Melina León | PER-USA 2019 | 97‘ | Zurich Film Festival 2019, Filmar en América Latina Genève 2020

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First published: July 20, 2020