Zimmerwald

[…] Es geht nicht um Provokation. Nur durch das Hinschauen und das genaue Hinhören offenbart sich eine recht schweizerische Haltung gegenüber der eigenen Geschichtsschreibung und deren Verdrängung.

Text: Ruth Baettig

Es ist das Jahr 1915, und sie sind da, im bernischen Bauerndorf Zimmerwald, mitten im Ersten Weltkrieg, um über einen möglichen Frieden zu sprechen: Lenin und Trotzki schreiben hier im Hotel «Beau Séjour» zusammen mit einer Gruppe gleichgesinnter Sozialisten mit ihrem Manifest Weltgeschichte. Alle sind als Ornithologen getarnt angereist. Dieses Ereignis spricht der Film Zimmerwald von Valeria Stucki an, doch viel mehr geht die Filmemacherin dem nach, wie heute mit diesem geschichtlichen Ereignis – der Konferenz von Zimmerwald – umgegangen wird und wie sich Geschichte nicht totschweigen lässt. Der Film konzentriert sich auf das Hier und Jetzt, und das ist seine Stärke!

Durch die Kamera schauen wir auf die Ränder und um die Ecke, was eine gewisse Absurdität zum Vorschein kommen lässt. Es erstaunt nicht, dass Silvan Hillmann (Unrueh) die Kameraarbeit verantwortet, denn er weiss, wie man die Kamera formal wirkungsvoll einsetzt; dazu gesellt sich eine äusserst präzise Arbeit auf der Tonebene. Hier fragt und zeigt die Filmemacherin, wie in Zimmerwald mit der Geschichte umgegangen wird: Was macht man, wenn man etwas nicht hören will? Viel Lärm! Denn durch dieses Bauerndorf rollen sie und radelt es, Kuhglocken und Mähdrescher übertönen das Flüstern der Zeit. Doch zum Glück sind da diese jungen Menschen, alles Sekundarschüler:innen aus einem Nachbardorf, die den historischen Boden von Zimmerwald mit den noch verbliebenen Zeitzeugen gehörig umwälzen. Erst mag es etwas starr, gestellt und trocken wirken, wie sie fragen, bohren, sondieren und recherchieren, doch im Verlauf des Films spürt man, wie das persönliche Engagement für Geschichtsschreibung erwacht und mit einer Initiative gar über die Vergangenheit in die Gegenwart einen Bogen schlägt. In einem offiziellen Brief an den Gemeinderat wird eine Gedenktafel vorgeschlagen, die auf die Konferenz Zimmerwald verweisen soll. Der Gemeinderat debattiert darüber vor laufender Kamera und beschliesst einstimmig, statt einer Gedenktafel eine schlichte Informationstafel aufzustellen. Doch dann überschlagen sich erneut die Ereignisse in der Gegenwart, der Ukrainekrieg bricht aus und lässt die Geschichtsaufarbeitung in Zimmerwald erneut verstummen. Des einen Leid, des anderen Freud, als ob man froh darüber ist, dass die Geschichte in Zimmerwald eine verdrängte ist.

Das Highlight von diesem Film ist die präzise Setzung von Inhalt und Form. Zimmerwald ist kein lauter Film, leise und sachte kommt er daher. Es geht nicht um Provokation. Nur durch das Hinschauen und das genaue Hinhören offenbart sich eine recht schweizerische Haltung gegenüber der eigenen Geschichtsschreibung und deren Verdrängung – wenn man es vorzieht, geräuschvoll über den Asphalt zu fahren, der den geschichtsträchtigen Boden überdeckt. Zimmerwald kann überall sein...

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Zimmerwald | Film | Valeria Stucki | CH 2023 | 66’ | Visions du Réel Nyon 2023, Solothurner Filmtage 2024 | CH-Distribution: Filmbringer

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First published: February 09, 2024