Virtual Reality: Gender Bender

Pure Effekthascherei oder neue Möglichkeiten für das Kino? Das Locarno Festival präsentierte erstmals in einer Sektion mehrere Virtual-Reality-Filme. Eine Begutachtung der erweiterten Kinorealität.

[…] Zweifelsohne kann das Genre VR viel mehr als der 3D-Film oder das Imax-Format. Es könnte sich neben dem herkömmlichen Kino etablieren, könnte das Konzept Katharsis revolutionieren. Aber es sollte über spielerische Effekthascherei hinausgehen und sich im Klaren sein, inwiefern der überall vorhandene Raum sinnstiftend für den Film ist. Früher oder später muss Interaktion oder zumindest ein eigener Körper, der sich einem Geschehen willentlich nähern oder davon distanzieren kann, möglich sein.

Eine neue Möglichkeit von Kino

Vor mir türmt sich ein Berg von einem Menschwesen mit Bocksfüssen auf. Die zum Pferdeschwanz hochgebundenen Haare sind hellblau, die Brüste im Bikini riesig, die Hüfte schwingt lasziv. Doch da sind auch Bartstoppeln, Bodybuilder-Muskeln und ein eher phallisch ausgestatteter Tanga. Theo Triantafyllidis hat im Virtual-Reality-Film (VR) Studio Visit 360 einen Ork-Mensch-Hybriden geschaffen, der vor sich hin werkelt im Atelier. Die virtuelle Welt ist zwar animiert, aber die physische Nähe dieser Person ist ziemlich real. Darum nutze ich instinktiv die Ich-Form, um dieses VR-Erlebnis festzuhalten. Selbst wenn in diesem Fall eher Ich-Verlust die passende Bezeichnung sein müsste. Mein Blick nach unten bestätigt nämlich meine eigene Körperlosigkeit – ein Ich-Verlust, der an der Realitätsfiktion dieses VR-Films kratzt. Kein Wunder, reagiert das Wesen nicht auf mich, während ich ihm instinktiv ausweiche.

VR, das in der Gamewelt und zusehends auch in der Phobie- und Phantomschmerztherapie eingesetzt wird, ebenso im Porno, erobert sich zusehends eine Nische an Filmfestivals. Das Locarno Festival hat heuer unter der neuen Leitung von Lili Hinstin eine VR-Sektion eingeführt. Darum ist eine Begutachtung der in Locarno gezeigten Filme angebracht. Die VR-Filme waren dem Thema «Gender Bender» verpflichtet, also dem sich Hinwegsetzen über zugeschriebene Geschlechterrollen. Es wurde definiert als Hommage zur Pardo-d’onore-Verleihung an John Waters, der «Ikone der Queerkultur», wie es im Programm steht. Acht Institutionen wie etwa das HeK, Haus der elektronischen Künste Basel, das Internationale Filmfestival Rotterdam (IFFR) oder das Genfer International Filmfestival (GIFF) haben VR-Arbeiten zum Thema vorgeschlagen. Im regulären Programm wurden zwei VR-Filme gezeigt.

In Domestika (Jacolby Satterwhite) öffne ich die Augen mitten in einem hoch aufragenden Weltengebäude. Man sieht Performance-Proben, Menschen in Latex-Kleidchen und viele Kinoleinwände. Überall gibt es etwas zu sehen. Doch weil man – ohne Einflussnahme – durch die Räume bewegt wird, stellt sich Übelkeit ein. Die Bewegung der Betrachterposition im Raum kombiniert sich schlecht mit den Bewegungen vom eigenen Kopf und denen des Drehstuhls, in dem man VR-Kino geniesst.

In A Room with Four Views (Maria Guta) sitzen sich vier Zuschauende gegenüber in einem Setting, das virtuell und real fast identisch ist. Kaum die Brille aufgesetzt, sitze ich drei verkleideten Menschen mit VR-Brille gegenüber. Der Blick nach unten stattet mich mit dem Körper einer Meerjungfrau aus, die sich an der sexuellen Stimulation einer anderen Person beteiligt. Trotz «eigenem» Körper fühlt es sich nicht unbedingt so an. Meine Arme, Hände und Beine tun, was ich sehe, aber nicht ausführe. Und wenn die Meerjungfrau berührt wird oder berührt, fehlt bei mir das haptische Erlebnis. Erst Gender Swap von BeAnotherLab.org bringt Berührung und Körpertausch ins Spiel. Hier sitzen sich zwei Leute gegenüber. An ihren VR-Brillen ist aussen zusätzlich eine Kamera angebracht. So ist es technisch möglich, dass ich im Körper des anderen meinem realen Körper gegenübersitze. Zusätzlich treten die Macher vor die Kamera und man sieht und spürt die Berührung der Hände gleichzeitig.

Das vom Locarno Festival gewählte Thema «Gender Bender» ist insofern dankbar, als es spielerisch ist und das Erkunden neuer Welten und Körper vorsieht. Bis jetzt sind aber insbesondere die haptischen Möglichkeiten noch sehr begrenzt. Und: Das bislang überragendste, allumfassendste VR-Kino, VR_I von 2017 des Schweizer Tänzers und Choreografen Gilles Jobin, fehlte in der Auswahl. Die Arbeit wurde ausgezeichnet am Festival du nouveau cinéma und in Venedig und am Sundance gezeigt. Darin wird grossartig mit Grössenverhältnissen, dem eigenen sicht- und bewegbaren Körper gespielt. Und wenn jemand durch mich hindurchläuft, spätestens dann weiss ich, wie sich ein Geist wirklich anfühlt.

Zweifelsohne kann das Genre VR viel mehr als der 3D-Film oder das Imax-Format. Es könnte sich neben dem herkömmlichen Kino etablieren, könnte das Konzept Katharsis revolutionieren. Aber es sollte über spielerische Effekthascherei hinausgehen und sich im Klaren sein, inwiefern der überall vorhandene Raum sinnstiftend für den Film ist. Früher oder später muss Interaktion oder zumindest ein eigener Körper, der sich einem Geschehen willentlich nähern oder davon distanzieren kann, möglich sein. Im Kino ist man Zuschauer, Voyeur, Aussenstehender. Man fiebert mit, erschrickt, weint, kann sich in Protagonisten hineinversetzen. Kathartisch zwar, aber begrenzt, zweidimensional. Der nebenan isst Popcorn, über der Piazza Grande fällt eine Sternschnuppe. Bei VR empfindet man Räume, können einem Körper unausweichlich nahe kommen, Menschen einem direkt in die Augen schauen. Und: In dieser in 360 Grad ausformulierten Welt ist man allein.

Dieser veränderten Zuschauer-Identität muss Rechnung getragen werden – auch mit der Erzählung. The Invisible Hand (Sektion «Moving Ahead») gelingt das nur ansatzweise. Den Plot von einer märchenhaften Verfluchung erzählt mir ein Mädchen. Sie agiert ebenfalls ausserhalb der Geschehnisse und flüstert mir teilweise fast ins Ohr. Das ist eine schöne Idee, aber die kopfverrenkende Suche nach Untertiteln in Kombination mit Höhenangst erschwert das Verständnis. Einzig Miyubi (zum Thema «Gender Bender») und La stanza di Hermann, die Diplomarbeit, die der Filmstudent Antonio Librera unabhängig vom Festival in einem kleinen Raum in Locarno gezeigt hat, punkten als Erzählungen, die sich die Möglichkeiten von VR richtig zunutze machen. In Miyubi bin ich ein Roboter eines Jungen. Ich sehe Teile meines «Körpers», der sich auf Katzenaugenhöhe fortbewegt, sehe meinen Batterie- und Systemstatus und wie mir der leicht senile Grossvater von der Seite her zuzwinkert. La stanza di Hermann nutzt die Körperlosigkeit von VR, indem der Ich-Erzähler deckungsgleich ist mit einem Geist, Hermann. Mit seinen Erläuterungen im Ohr schweife ich durch Hotelwände und betrachte Zimmer von oben herab. Beim Geisterbeschwören sitzen wir in der Tischmitte.

Alfred Hitchcock hat einmal gesagt: «Kino ist das Wie, nicht das Was». Ob sich im Falle von VR diese Aussage verkehrt, das werden einige Jahre Entwicklung zeigen, die hoffentlich auch weiterhin in Locarno mitverfolgt werden kann. So hätte zum einen die virtuelle Kinorealität Zeit, sich aus den Kinderschuhen heraus zu entwickeln, und andererseits könnte sich das durchschnittliche Zuschaueralter von etwa dreissig Jahren noch markant ausdehnen.

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Virtual Reality: Gender Bender | Shorts | Locarno Film Festival 2019

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First published: August 20, 2019