Untitled

[…] Am meisten ähnelt «Untitled» vielleicht Chris Markers «Sans soleil». Auch da reist ein Filmemacher den Bildern hinterher, auch da hören wir seine Gedanken in Briefen an ein unbekanntes Gegenüber – Gedanken getragen vom Wahnsinn und der Schönheit der Existenz.

[…] Was übrigbleibt, wenn all diese Kategorien von den Bildern einfach abfallen, ist reines Staunen – über das Fremde, wie auch über sich selbst in dessen Angesicht. Der Film begnügt sich damit, etwas einfach mal nicht verstehen zu können, und eigentlich verlangt er dies auch vom Zuschauer…

Einen Film der nie zur Ruhe kommt, wollte Michael Glawogger drehen. Einen Film ohne Thema, ohne Urteil, ohne Ziel – ein Jahr lang die Welt bereisen, nur der Intuition folgend, den Bildern. Drei Monate dauerte die Reise schliesslich nur, von Österreich aus über den Balkan nach Italien, dann durch den Westen von Afrika, bis nach Liberia, ins kleine Dorf Harper, am Meer. Dort steckte sich Michael Glawogger mit Malaria an und verstarb kurze Zeit später in der Hauptstadt Monrovia. Er habe davon geträumt, in Harper, der einer der letzten wirklich abgelegenen Orte auf der Welt sei, unsichtbar zu werden, zu verschwinden, wird er einmal im Film zitiert. Auf eine Weise ist ihm dies gelungen, wie ihm auch jedes andere der aufgelisteten Vorhaben für den Film gelungen ist.

Das war 2014. Untitled in seiner jetzigen Form ist das Ergebnis der jahrelangen Schnittarbeit seiner Cutterin Monika Willi, die dessen Film nicht vollendet hat (es ist kein Film, der ein Ende haben könnte), sondern auf beeindruckende und ebenso scheinbar intuitive Weise in Form bringt – als Vermächtnis seines Schöpfers, als Hommage, als Nachruf.

Am meisten ähnelt Untitled vielleicht Chris Markers Sans soleil. Auch da reist ein Filmemacher den Bildern hinterher, auch da hören wir seine Gedanken in Briefen an ein unbekanntes Gegenüber – Gedanken getragen vom Wahnsinn und der Schönheit der Existenz. Die Texte entspringen den Notizen, die Glawogger während seiner Reise aufgeschrieben hat und werden, in die dritte Person gesetzt, von Fiona Shaw vorgelesen. Manchmal beziehen sie sich auf die Bilder, die wir sehen, manchmal nicht. Die Struktur ist loser als jene von Sans soleil, der Film folgt keiner geographischen oder zeitlichen Logik, sondern einer Logik der Bilder, der Bewegungen. Es gibt, wie von Glawogger beabsichtigt, kein Thema, dem diese untergeordnet werden könnten, wie auch keinen Rhythmus, den die Bilder nicht von sich aus schon enthalten. Man erinnert sich an Powaqqatsi von Godfrey Reggio, an Samsara oder an Lucky People Center International und bemerkt, wie wenig die Bilder in diesen Filmen für sich selber stehen durften.

Es ist dieser absolut unvoreingenommene Zugang zu den fremden Welten, die hier abgebildet sind, der diesen Film zu etwas einzigartigem macht. Keine vorgefertigen Analysemuster, kein (heuchlerisches) westliches Mitleid mit der sogenannten Dritten Welt – Untitled ist ein Film, der solche im Grunde gewaltsame analytische Begriffe nicht nur nicht ablehnt, sondern gar nicht zu kennen scheint. Was übrigbleibt, wenn all diese Kategorien von den Bildern einfach abfallen, ist reines Staunen – über das Fremde, wie auch über sich selbst in dessen Angesicht. Der Film begnügt sich damit, etwas einfach mal nicht verstehen zu können, und eigentlich verlangt er dies auch vom Zuschauer; liefert weder Erklärungen, Kontext, noch nicht einmal eine geographische Situierung der Bilder. Was auch gänzlich abwesend ist – und man könnte hier über Kausation oder Korrelation diskutieren – ist jegliche Form von Zynismus. Insofern ist Glawogger hier etwa das genau Gegenteil seines Landsmanns Ulrich Seidl, eben nicht nur was die offensichtlichen Unterschiede bezüglich Kameraführung, Kadrierung und Schnitt betrifft, sondern in seiner ganzen Haltung der Welt und ihrer Bewohner gegenüber. Auch wird hier nicht mittels Inszenierung oder Interviews in die Realität eingegriffen – sieht man einmal vom Aufscheuchen eines Vogelschwarmes in der allerersten Szene ab; der einzige Moment auch, in dem man Glawoggers Stimme hört. Stative, die den Bilden Ruhe verleihen würden, werden kaum eingesetzt (und wenn doch, dauert die Einstellung kaum je mehr als eine Sekunde), die bevorzugte Kameraplatzierung ist auf fahrenden Autos oder Zügen.

Wenn es etwas Konstantes gibt, nebst dieser rauschhaften Nicht-Konstanz, sind das gewisse wiederkehrende Motive, die sich aber in Monika Willis Schnitt nie aufdrängen, sondern immer wie aus der Situation zu ergeben scheinen. Tiere etwa, immer wieder und überall: Esel und Pferde, an Fahrzeuge gespannt, im Balzkampf, auf Nahrungssuche auf einem gigantischen Müllhaufen in der Wüste. Oder dann, tot und verwesend neben der Strasse, auch Hunde und Katzen, offensichtlich seit Wochen liegengelassen, von Maden zerfressen. Zum Ausgleich dann ein Hundebaby, das ungelenk und herzerwärmend von einer Matratze fällt. Kinder, überall die auffälligsten Geschöpfe, rennend, lachend, arbeitend, stets und überall die besten Navigatoren der unübersichtlichen und schwierigen Landschaften. Beim selben Müllberg wie die Esel auf der Suche nach Verwertbarem; in der afrikanischen Stadt während eines Stromausfalls auf Skateboards, Wasser hinaufschleppend um es zu verkaufen, um dann halsbrecherisch wieder durch das Strassenlabyrinth nach unten zu rasen, um neues zu holen. Frauen, bei der Arbeit im Steinbruch, auf der Suche nach Diamanten, beim Stillen der Kinder. Und die Männer, fast immer in spielerischen und auch ernsten Konfliktsituationen – Ringkampf im Sand, Fussball am Strand, mit einem Bein. Eine Sprache nur aus Fussballernamen sollte es geben, wird philosophiert. Dabei und doch nicht dabei immer der ziellose Weltflaneur Glawogger mit seinem Kameramann Attila Boa, unsichtbar und doch präsent – auch lange nach seinem endgültigen Verschwinden noch, fortlebend in seinem staunenden Blick, in diesem wunderschönen und undefinierbaren Film ohne Titel.

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Untitled was screened at Bildrausch Filmfest 2017 in Basel

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Untitled | Film | Michael Glawogger, Monika Willi | AT-DE 2017 | 107’ | Bildrausch Filmfest 2017 Basel

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First published: June 23, 2017