Dreamaway

[…] Das System Tourismus könnte ad absurdum geführt, der Lächerlichkeit preisgegeben, die These von seiner Seelenlosigkeit ein für alle Mal visuell unter Beweis gestellt werden. Bis man irgendwann merkt, dass hier nichts künstlich inszeniert oder frühmorgens gedreht ist…

[…] Dem Regieduo hinter «Dreamaway», Marouan Omara und Johanna Domke, blieb wohl aber nicht viel anderes übrig, als von der in Sharm el Sheikh bereits vorherrschenden Stimmung auszugehen und sein Porträt der dort verbleibenden Menschen, die „irgendwie von diesem Ort nicht mehr loskommen“ unter den Vorzeichen einer Art Zwischenwelt oder Vorhölle zu gestalten, die nach allen Seiten hin offen ist, von der man aber nicht wegkommt, wie sehr man sich auch bemüht.

Zu viele Touristen rauben einem Ort die Seele, bringen als Ersatz dafür aber immerhin Jobs, Geschäftigkeit und Geld mit. Manche Orte gehen diesen Pakt freiwillig ein, andere nicht. Was geschieht aber mit einem vollständig auf den Tourismus ausgerichteten Ort, dessen Seele mutmasslich über Jahrzehnte in kleinen Stückchen abtransportiert und wegfotografiert wurde, wenn die Touristen plötzlich ausbleiben? Es bleibt eine Geisterstadt ohne Geister, bevölkert nur noch von jenen, die überall sonst noch weniger zu Hause sind.

Vielleicht lag es an mangelnder Konzentration meinerseits oder einfach an Unkenntnis, aber während der ersten Momente von Dreamaway war ich überzeugt, dass die Bilder, die wir sehen, einer künstlichen filmischen Versuchsanordnung entspringen: Wie sieht ein normalerweise von Touristen überrannter Ort aus, wenn man diese einfach wegdenkt, alles andere aber seinen gewohnten Lauf nimmt? Das System Tourismus könnte ad absurdum geführt, der Lächerlichkeit preisgegeben, die These von seiner Seelenlosigkeit ein für alle Mal visuell unter Beweis gestellt werden. Bis man irgendwann merkt, dass hier nichts künstlich inszeniert oder frühmorgens gedreht ist, wenn sich die Touristen vom Strand und von den Partys am Vortag erholen, sondern tagsüber, wenn eigentlich kein einziger Liegestuhl frei bleiben sollte. Der Effekt, mit oder ohne Überraschung, ist unwirklich. Noch schlimmer, als wenn die gerufenen Geister auftauchen, ist, wenn sie plötzlich alle wieder verschwinden, nachdem man ihnen das Haus so angenehm wie möglich eingerichtet hat. Ein Aufwachen aus dem Albtraum in eine Realität, die noch unheimlicher ist.

Bis zur Hälfte des 20. Jahrhunderts war Sharm el Sheikh nicht viel mehr als ein Fischerdorf auf der Sinaihalbinsel, zeitweise höchstens noch Schauplatz internationaler Krisen und deren Schlichtungsversuche. Ab den 1980ern dann entwickelte sich das Dorf – nicht weit vom Original, allerdings ideologisch entgegengesetzt – zu einem touristischen Mekka, das jährlich über acht Millionen Besucher anzog. Nach Terroranschlägen, 2005 auf die Stadt selbst und 2015 auf ein russisches Flugzeug, sowie mehreren tödlichen Haiattacken und nicht zuletzt den Unruhen des Arabischen Frühlings gingen die Besucherzahlen allerdings dann so drastisch zurück, dass jetzt jährlich nur noch etwa 200'000 Besucher ihre Ferien in der ursprünglich einmal malerischen Küstenstadt verbringen wollen. Geblieben sind die leeren Hotels, an denen der ägyptische Staat, offenbar um den Anschein zu wahren, um jeden Preis festhalten will, und deren Angestellte. Diese führen ihre Animationstänze jetzt also vor einer Reihe leerer Liegestühle vor oder spielen ihre DJ-Sets vor leeren Tanzflächen, ohne dass das professionelle Lächeln Brüche zeigen würde. Man denkt an die Katze, die grinst, ohne da zu sein, nur dass es das Objekt des Lächelns ist, das fehlt. Die Wirkung ist amüsant und verstörend zugleich.

Traumartige Atmosphären sind ja für den Dokumentarfilm eher unüblich, höchstwahrscheinlich, weil die allermeisten dem nachjagen, was sie Realität nennen. Dem Regieduo hinter Dreamaway, Marouan Omara und Johanna Domke, blieb wohl aber nicht viel anderes übrig, als von der in Sharm el Sheikh bereits vorherrschenden Stimmung auszugehen und sein Porträt der dort verbleibenden Menschen, die „irgendwie von diesem Ort nicht mehr loskommen“ unter den Vorzeichen einer Art Zwischenwelt oder Vorhölle zu gestalten, die nach allen Seiten hin offen ist, von der man aber nicht wegkommt, wie sehr man sich auch bemüht. Eine der zentralen Einrichtungen des Films besteht daraus, seine Protagonisten einem Pick-up hinterherjoggen zu lassen, während ihnen ein riesiger luftgefüllter Affe Fragen zu ihrem Leben, ihren Ängsten und ihren Wünschen stellt. Dabei erfahren wir, dass die meisten unter ihnen – sie kommen von der ganzen Welt her – sich emotional wie sozial komplett von ihrer Herkunft entfernt und hier in Sharm el Sheikh wenn auch kein Zuhause, dann doch eine Art Existenz gefunden haben. Für eine Ägypterin beispielsweise ist klar, dass sie zu Hause nicht mehr erwünscht ist, da „nicht mehr heiratswürdig“ noch eine der netteren Bezeichnungen für junge Frauen ist, die in Sharm el Sheikh arbeiten. Andere erzählen von unglücklichen Beziehungen, gescheiterten Lebensentwürfen und, etwas codiert, von einer Gesellschaft, die Menschen wie ihnen – Geschiedene, Ehebrecher, DJs und andere soziale Outcasts – keinen anderen Platz mehr zu bieten hat. Dass aufgrund des weiterhin anhaltenden Rückgangs der Besucherzahlen auch ihre Löhne immer mehr gekürzt werden, gestaltet ihre Situation kaum angenehmer – doch wo wollen sie sonst hin? Das Heiratsangebot eines zwielichtigen Italieners annehmen etwa, wie es sich Hossaya, eine der Hotelangestellten, überlegt. Besser jedenfalls, als in die ägyptische Gesellschaft zurückzukehren und in die Turbulenzen und Unsicherheiten, die der Arabische Frühling und dessen Folgen mit sich gebracht haben.

So müssen sie schliesslich selbst zu den Gespenstern werden, welche die Geisterstadt Sharm el Sheik aus eigener Kraft nicht mehr aufzubringen vermag, weil die Millionen von Touristen während vier Jahrzehnten alles Feinstoffliche bereits abgetragen haben. Da rennen sie dann gott- oder dämonengleichen Affenwesen auf Pick-ups hinterher oder treffen sich in der Wüste, um den Flugzeugen hinterherzuschauen, während in der Stadt ein grünlicher Pestizidnebel die Palmen umweht und ein Kamel eine weggeworfene Kartonschachtel frisst. Irgendwo steht ein etwas verloren leuchtendes Neonschild: I Love Egypt. So sehen die Ruinen des modernen Tourismus aus, dessen Bewohnern Dreamaway ein eindringliches Denkmal setzt.

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Dreamaway | Film | Marouan Omara, Johanna Domke | EGY-DE 2018 | 86’ | FIFF Fribourg 2019, Black Movie Genève 2020

Critics’ Choice Award at Festival International de Films de Fribourg 2019

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First published: March 28, 2019