Die bauliche Massnahme

[…] Die Montage fügt die Interviewsequenzen zu einem Mosaik zusammen, das einen deutlich komplexeren Diskurs abbildet als jener, den die österreichische Politik im Fernsehen austrägt.

[…] Mehr noch als das Missverhältnis zwischen öffentlichem und innergesellschaftlichem Diskurs scheint die Kluft zwischen Denk- und Handlungsvermögen in «Die bauliche Massnahme» als ständiges Echo über den Brennerpass zu hallen.

Text: Karsten Munt

Die Grenze am Brennerpass, eine Grenze zwischen Italien und Österreich, ist keine wirkliche Grenze mehr. Schon das erste Bild in Nikolaus Geyrhalters Die bauliche Massnahme zeugt von dieser Trennung, die eigentlich nicht existiert: Ein Zug steht zwischen Italien und Österreich. Genau dort, wo die jeweiligen Staaten von Schildern an einer Betonwand repräsentiert werden, schliessen zwei Waggons aneinander an: sichtbar voneinander getrennt, sichtbar miteinander verbunden.

Das Gleis ist nicht der einzige Punkt der offen geschlossenen Grenze, der diesen fast komödiantisch absurden Widerspruch aufweist. Zwei Jäger führen den Regisseur zu einem hölzernen Grenzzaun, der sich über den grün bewachsenen Landrücken zieht. Optisch kaum von einer altmodischen Weidegrenze unterscheidbar, ist der Zaun an dieser Stelle zusätzlich mit einer Sitzbank ausgestattet, die wie eine kleine Treppe auf die andere Seite führt. Auch der durch den Gebirgspass führende Kreisverkehr weiss sich, allein seiner Form wegen, nicht als Grenze auszuweisen. Es braucht die in der Nähe postierten Soldaten, um jenen Grenzschutz anzudeuten, den die österreichische Regierung mit einer baulichen Massnahme androht. Um den „Flüchtlingsströmen“, die über Italien ihren Weg ins Innere Europas suchen, Einhalt zu gebieten, soll eine wirksamere Grenzanlage eingerichtet werden. Zu sehen sind diese Ströme von Flüchtenden nicht. Die Soldaten, die im Panorama des Brennerpasses mit dem Fernglas in die Ferne spähen, wirken hier absurd und deplatziert. So vergessen beide auch schnell ihren Beobachtungsauftrag, als sich eine schwarze Katze in das Bild schleicht und sich an ihre Beine schmiegt.

Die bauliche Massnahme sucht derartige Widersprüche und Störungen in den aus Geyrhalters Œuvre bekannten, präzise arrangierten statischen Bildern. Das speziell zum Zweck der Grenzkontrolle angeschleppte Container-Büro steht ebenso verloren am Strassenrand wie die Vertreter des Bundesheeres in der Berglandschaft. Im Container sollen Flüchtende registriert und dann weiter- bzw. zurückgeschickt werden. Einer von zwei Polizisten, die in den ansonsten völlig verwaisten Räumen arbeiten, erklärt den Ablauf der Flüchtlingsausweisung. So präzise er den Prozess beschreibt, so wenig kann er erläutern, welches Ziel hier genau verfolgt wird. Was die österreichische Bundesregierung grob mit der „Gewährleistung von Sicherheit“ betitelt, ist für den Polizisten, der augenscheinlich schon einige Dienstjahre hinter sich hat, trauriger Alltag: Die Flüchtlinge werden abgewiesen, nach Italien gefahren und ein bis zwei Tage später wieder am Brennerpass aufgelesen. Leid und Elend werden registriert, ignoriert und wie ein Paket, dessen Annahme man verweigert, zurück in den Nachbarstaat verschickt.

Die dazu passenden Kampfbegriffe kommen aus diversen Fernsehern. In Bars und Raststätten aufgehängt, dröhnen sie Forderungen von der Sicherung der Staatsgrenze in den Raum, bis der Film ihnen buchstäblich das Wort abschneidet, um die Diskussion den Menschen am Brennerpass selbst zu überlassen. Auch in diesen Interviews geistern die bekannten Schlagwörter umher. Die flächendenkende Angst, die der damalige Aussenminister Kurz über den Bildschirm vermittelt, findet hier allerdings nur wenig Resonanz. Zwar glaubt die Maut-Kontrolleurin ernsthaft, dass man den Flüchtlingen Autos und Häuser schenke, aber schon der nächste Anwohner, ein Bio-Bauer, stellt fest, dass es absurd sei, vor den Menschen Angst zu haben, die selbst vor einem Krieg fliehen. Die Montage fügt die Interviewsequenzen zu einem Mosaik zusammen, das einen deutlich komplexeren Diskurs abbildet als jener, den die österreichische Politik im Fernsehen austrägt.

Mehr noch als das Missverhältnis zwischen öffentlichem und innergesellschaftlichem Diskurs scheint die Kluft zwischen Denk- und Handlungsvermögen in Die bauliche Massnahme als ständiges Echo über den Brennerpass zu hallen. Was Geyrhalter in Filmen wie Unser täglich Brot und Erde auf der globalen Skala betrachtete, wird hier auf eine winzige Grenzregion zugeschnitten. Den konkreten Gesten der Solidarität, die der Film immer wieder unter den Anwohnern findet, steht eine so lächerliche wie konzeptlose staatliche Drohgebärde entgegen: In einem Container verschlossen lagert der Grenzzaun, der Österreich im Ernstfall beschützen soll, auch wenn er nur aus Maschendraht ist – man ist ja schliesslich für offene Grenzen.

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Die bauliche Massnahme | Film | AT 2018  | 112‘ | Nikolaus Geyrhalter | Bildrausch Filmfest Basel 2019

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First published: June 25, 2019