Berlin Alexanderplatz

[…] «Berlin Alexanderplatz» ist dabei weder Integrationsfilm noch soziales Drama.

[…] Albrecht Schuch faltet diese Mephisto-Figur über die fünf Episoden des Films mit brillanter Unberechenbarkeit Stück für Stück auf. Der gebeugte Teufel umgarnt Francis, kitzelt ihn, stichelt ihn, unterwirft sich ihm, überragt ihn und lässt ihn fallen.

Text: Karsten Munt

Das Bild steht kopf. Dort, wo sonst der Horizont zu sehen ist, tobt das Meer, verschluckt die zwei hilflos treibenden Menschen. Für wenige Sekunden verschwinden Ida und Francis im Mittelmeer. Dann dreht sich das Bild. Das Wasser steht wieder an seinem angestammten Platz. Ida wird auf dieser Seite nicht wieder auftauchen. Das Meer gibt nur Francis wieder frei.

In einer Flüchtlingsauffangstation am Berliner Stadtrand treffen wir ihn wieder. Ohne Pass findet sein Leben hier in einer fremden Welt zwischen seinem winzigen Quartier und dem Untertagebau statt. Dass nicht Francis selbst, sondern seine Umwelt das Fremde darstellt, ist die entscheidende Perspektivverschiebung des Films. Nicht der Geflüchtete wird hier aus deutscher Perspektive porträtiert, sondern Deutschland aus der Perspektive des Geflüchteten. Die bietet zunächst wenig mehr als Flüchtlingsheim und Schwerstarbeit. Bis Reinhold (Albrecht Schuch) in der Unterkunft am Stadtrand Berlins auftaucht. Wie vom eigenen Körper eingeschnürt, schlurft der gebeugte Mann an den Geflüchteten vorbei, steigt auf eine Kiste und steht dort wie eine schiefe Statue, die sich selbst mit dem rechten Arm den Rücken stützen muss. Seine Rede ist so ungelenk wie sein Körper, und doch zieht seine leise Stimme schliesslich alle in seinen Bann. Reinholds Worte und die dazugehörigen Geldscheine, die er verteilt, geben ein Versprechen ab: Jeder kann ein Teil dieses verkrümmten, hinterlistigen und gewinnversprechenden Landes zu werden, das die in dem tristen Betonblock Gestrandeten und von Kiefernwäldern eingesperrten Flüchtlinge bisher nie gesehen haben.

Die Grossstadt, die dahinter liegt, ist ein Update des Molochs, den Alfred Döblins Roman und die zweite, von Rainer Werner Fassbinder inszenierte Verfilmung beschrieben. Burhan Qurbanis Neuverfilmung behält den Massstab von Döblins Jahrhundertroman und Fassbinders Adaption bei, sucht ansonsten aber immer wieder offenkundig den Weg in die Eigenständigkeit. Qurbani verlegt den Stoff in das heutige Berlin. Franz Bieberkopf, der nun Francis heisst, wird nicht aus dem Knast entlassen, sondern flieht aus Guinea-Bissau in die deutsche Hauptstadt. Von Döblin und Fassbinder übernommen hat der neue Berlin Alexanderplatz das epochale Ausmass der Erzählung, das Qurbani mit enormer Wucht auf die Leinwand bringt. Die Grossstadthölle wirkt aufgeladen, rastlos, permanent beschleunigt. Der Berliner Dreck leuchtet. Seine Farben spiegeln sich in Francis’ Gesicht, wenn er unter Reinholds Führung dieses Berlin entdeckt. Er bekocht die Drogendealer der Hasenheide, schmeisst den Haushalt für Reinhold, lässt sich von ihm Franz taufen, tanzt auf seinen Partys im Gorillakostüm und nimmt ihm die Frauen ab, die er direkt nach dem Sex abstossend findet. Francis ist der starke Körper, den Reinhold braucht, Reinhold ist das abgründige, gefährliche, aber eben alternativlose Deutschland, an das sich Francis klammert.

Berlin Alexanderplatz ist dabei weder Integrationsfilm noch soziales Drama. Das Berlin der Nacht- und Stripclubs, der Bordelle und Bars, durch die Reinhold und sein Boss Pums (Joachim Król) Francis führen, bevor er bei der Prostituierten Mieze (Jella Haase) ein kurzzeitiges Refugium findet, zeigt sich nie als authentisches Milieuabbild, sondern bildet einen ganz eigenen, vom sozialen Realismus abgeschotteten Raum. Ein bunt brennendes Fegefeuer, das in den dunkelsten Winkeln der Stadt wirtschaftliche und sexuelle Abhängigkeiten sichtbar macht und selbst auf den Skimasken, die die Kriminellen für einen Überfall aufsetzen, noch als neonfarbene Grimasse erscheint. In diesem Berlin gibt es nicht den Weg zum Staatsbürgerdasein, den sich die deutsche Gesellschaft gerne vorstellt, sondern nur ein zerstörerisches Abhängigkeitsgeflecht zu Gangstern und Geliebten. Ein Geflecht, in dem Francis langsam aufgerieben wird. Durch Reinhold kann er wieder aufsteigen, wieder arbeiten, wieder Sex haben, wieder leben – nur nicht als er selbst. Unter dem armseligen, verführerischen und diabolischen Reinhold gibt es für Francis kein Ankommen und kein eigenes Leben. Albrecht Schuch faltet diese Mephisto-Figur über die fünf Episoden des Films mit brillanter Unberechenbarkeit Stück für Stück auf. Der gebeugte Teufel umgarnt Francis, kitzelt ihn, stichelt ihn, unterwirft sich ihm, überragt ihn und lässt ihn fallen.

Auf dem gleichen Podest, das Reinhold im Flüchtlingslager bestieg, richtet sich Francis wieder auf. Mit unsicherer Stimme versucht er erfolglos, die gleiche Rede zu halten, die Reinhold hier einst hielt. Erst als er im Scheitern zum eigenen Trauma findet, das alle Umstehenden mit ihm teilen, hören sie ihm zu. Doch am Ende seiner Rede steht nicht die Rückkehr zur eigenen Identität. Francis erzählt die Geschichte von Franz. Eine Aufstiegsgeschichte, an deren Ende er alles hat: ein deutsches Auto, eine deutsche Frau und einen deutschen Namen. «Ich bin der deutsche Traum. Ich bin Deutschland», ist der Satz, mit dem Francis (oder Franz) schliesst. Eine falsche Wunschvorstellung, von der sich Francis nie lösen wird, solange der Mann, der ihn zu Franz und Franz zu seinem deutschen Traum gemacht hat, ihn nicht freigibt.

 

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Berlin Alexanderplatz | Film | Burhan Qurbani | DE-NL-FR-CAN 2020 | 183‘

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First published: July 25, 2020