Azor

Lead
[…] Immer wieder sorgt der Sound für Thriller-artige Momente, die sich mit dem Ennui des Wohlstands und der pittoresken Szenerie wunderschön reiben.

[…] Die argentinische Diktatur gibt dem Geschehen im Film den Puls vor und dringt bis in die Sprache aller Beteiligten, bleibt aber bis auf ein paar Augenblicke unsichtbar.

Worüber sprechen, wenn nur noch die Fassade hält? Worüber smalltalken, wenn eigentlich Geld versteckt wird? «Wie geht es der Tochter in Gstaad?» «Und feiern Sie noch den argentinischen WM-Sieg von vor zwei Jahren?» Familienstammbaum und Fussball – was für unverfängliche Themen. Doch im Argentinien von 1980 ist auch das eine ungewisse Partie, die Geschehnisse der Gegenwart durchdrängen jedes Gespräch wie Feuchtigkeit die Kleidung. So will nämlich der langjährige Bankkunde sein Geld auf ein Schweizer Konto überschreiben auf den Namen seiner «verschwundenen» Tochter. Und die Weltmeisterschaft hat Argentinien in Buenos Aires in einem Stadion gewonnen, in dessen Hörweite der Staat seine eigenen Leute gefangen hielt und folterte. 

Ja-Sagen oder Schweigen

Aber alles ist Ansichtssache im Langfilmdebüt Azor des Schweizer Regisseurs Andreas Fontana – oder genauer eine Frage der Wortwahl, der Fähigkeit zum Ja-Sagen im richtigen Moment oder zum Schweigen. Die erste Szene macht dies deutlich: Das Ehepaar de Wiel aus Genf sitzt im Auto des Schweizer Botschafters – ein Cousin Inés de Wiels – und beobachtet, wie auf der Strasse von Buenos Aires das Militär einen jungen Mann in Schlaghosen festnimmt. Der Chauffeur spricht von einer «kleinen Verzögerung». An der Réception parliert man Französisch mit dem Portier über Fussball und «nötige Modernisierungen» der Stadt. Erstmals wird der Schweizer Botschafter  im Restaurant einigermassen deutlich: Was in Buenos Aires passiert sei, seien «Gerüchte», er betont nachdrücklich, nichts von «Protesten» hören zu wollen. Die de Wiels akzeptieren stillschweigend die Sprachregelungen. Sie sind hier, um eine Genfer Privatbank zu retten, die Yvan in der dritten Generation führt und in deren Namen er die Wogen seines Vorgängers glätten muss. René Keys ist nämlich verschwunden, was in einer Diktatur, in der der Peso in der Keller stürzt, selten Gutes bedeutet. Wörter wie «verschwunden» oder «vom Staat beschlagnahmt» und «verhaftet» werden in der Regel nur hinter vorgehaltener Hand ausgesprochen, während einer Party oder eines Pferderennens. Allgemein gilt: Schweigen ist Gold – das geflügelte Wort erweist sich im doppelten Wortsinn als wahr für den Spielfilm Azor, der mitten ins Herz des Privatbankmilieus, in dessen Codes und Geheimnisse eindringt. 

Weil auf die Sprache nicht mehr Verlass ist, bleibt Inés de Wiel (Stéphanie Cleau) so stumm wie möglich, sie kommentiert (und delegiert) nur gegenüber ihrem Mann, ansonsten hüllt sie sich in Zigarettenrauch und Schweigen. Ganz getreu dem Code aus dem Bankenwesen, wie sie ihn einer wohlhabenden Señora erläutert: «Azor» bedeutet nämlich «sei still und pass auf, was du sagst». Darum schwimmt sie in Pools der Gastgeber, badet quasi das Geschäft in Unschuld, verleiht ihm einen anständigen Anstrich. Ganz allgemein rauchen und schwimmen in diesem Film die Frauen – aus dem Business und den Clubs werden sie rausgehalten. 

Ennui des Wohlstand

Eigentlich feiert man sich in bittersüsser Partystimmung ins Verderben und hofft, wie das Geld aus der Affäre gezogen zu werden – an einen sicheren (und neutralen) Ort. Die Setzung im Film lässt einen nur gesittete und schöne Menschen sehen, die höflich parlieren und Normalität fingieren. Immer wieder sorgt der Sound für Thriller-artige Momente, die sich mit dem Ennui des Wohlstands und der pittoresken Szenerie wunderschön reiben. Die Krägen sind gestärkt, die Miene sitzt, Langeweile oder Angst kommt nur ganz selten zum Ausbruch. Immer wieder richtet sich die Kamera auch auf Besitztümer, produziert Stillleben des Wohlstands, die zwar glänzen; aber an ihnen haftet der Staub vergangener Zeiten – ein weiteres Beispiel für die starke Symbolgebung im Film, bei dessen Screenplay Fontana mit dem argentinischen Regisseur Mariano Llinás zusammengearbeitet hat. Llinás ist spätestens seit seinem 12-Stunden-Opus La flor, das in Locarno Premiere feierte, bekannt für seine Freude an Stilmitteln, intertextuellen Anspielungen und Symbolik, so taucht er denn auch selbst auf als wissender Beobachter an der Bar im Club de armas, dem erlauchten Zirkel der Macht in Buenos Aires, in dem nur weisse Männer mit Rang und Namen verkehren.

Schauspieler Fabrizio Rongione fügt sich mit ruhigem Französisch und geschliffenem Spanisch aalglatt in diese Gesellschaften. Er gibt den völlig unauffälligen und zurückhaltenden Bankier, der nur in Verlegenheit kommt beim ungehobelten Dandy Farrell, welcher den Moment seines Aufstiegs wittert. De Wiel wirkt einfühlsam, besorgt, und sein Stil ist anders als der von Keys, was man ihm fast als Bescheidenheit auslegen würde. Und da ist manchmal eine Müdigkeit in seinem Gesicht, dass man beinah meint, hier einen Bankierssohn wider Willen vor sich zu haben. Er scheint müde vom alten Geschäft, bei dem Bargeld in Sporttaschen in die Schweiz gebracht wird und das durch das Aufkommen des Investmentbankings – symbolisiert durch verstockte, aber gierige Bundesbeamte der Credit Suisse mit Clipboards und Checklisten – gefährdet wird. Und hinter Keys aufzuräumen, im Schatten seines Draufgängertums, unter der Kritik seiner Frau, das ermüdet ihn auch. 

Der Geistliche spricht Tacheles

Erst ein ranghoher Bischof (grausam unverhohlen und süffisant wissend gespielt von Pablo Torres Nilson) erlaubt sich gegen Ende des Films, Tacheles zu reden und de Wiel aus der Reserve zu locken: Man müsse diese «Parasiten entsorgen». Weil er der unangefochtene Wortführer ist – er sitzt vor einem roten Vorhang wie im red room von «Twin Peaks» –, kauft und predigt er, was er will. Getreu der Formel vom Kunden als König, lässt sich Privatbankier Yvan de Wiel hier zu einem «Ja» herunter. Business first. 

Das wüste politische Geschehen ist fast wie de Wiels Geschäftspartner Keys: unsichtbar und abwesend – und daher umso bedrohlicher. Die argentinische Diktatur gibt dem Geschehen im Film den Puls vor und dringt bis in die Sprache aller Beteiligten, bleibt aber bis auf ein paar Augenblicke unsichtbar. Hier erinnert die schweizerisch-argentinische Koproduktion an den mexikanischen Film Las niñas bien von Alejandra Márquez Abella (2018), in dem die schöne Villenrealität nur Risse bekommt, wenn mal der Pool nicht gefüllt werden kann, weil das Wasser abgestellt wurde. Auch in Azor kommt dem Wasser eine wichtige Rolle zu: Während sich die Frauen im Wasser suhlen, dominieren die Männer darauf. So sitzt de Wiel, der eigentlich nur Mineralwasser trinkt, im weissen Hemd auf einem Boot, das ihn mitten in den Dschungel und zum rätselhaften Kunden von Keys mit dem Namen Lazarus bringt.

Teuflisch und schwach

Die militärische Schutzzone Isla Lazarus ist damit gemeint, in gewissen Kreisen auch El Dorado genannt. Die Referenz auf Conrads Herz der Finsternis ist offensichtlich: Hier vermutet de Wiel seinen der Welt abtrünnig gewordenen Kurtz (oder eben Keys) und irgendwie auch des Rätsels Lösung. Eine schauderhaft schöne Parallelführung von Kolonialismus und Finanzwelt, die de Wiel vollends entfesselt. Hier, inmitten der Natur, blüht er auf, hier lockern sich seine Zunge, Züge und Bewegungen, hier wird er endlich zu dem, den er schon im Witz mit sich verglichen hatte: Hernán Cortés. Eroberer (und Unterdrücker) Südamerikas, Bote von Wohlstand und Kultur für die Weissen (respektive Bringer von Armut und Kulturverlust für die Indigenen). In Anbetracht dieser Geschäftsmöglichkeit ist er sogar bereit, sein Bankgeschäft in gewissem Sinne zum «Auktionshaus» umzufunktionieren. Und: Die Namensgebung von de Wiel erweist sich spätestens hier als höchst symbolisch. Auf Spanisch ausgesprochen mit weichem W, das wie ein B klingt, klingt sein Name wie «débil» – schwach. Betont man das W mehr, klingt sein Name mehr wie der Teufel auf Englisch – «devil».  

Teuflisch sein und schwach wirken – beides Eigenschaften, die es braucht zum Geschäften, wie die Schweiz seit immer mit fremdem Geld geschäftet und sich Reichtum sichert. Der Preis davon: Die ach so gerühmte Neutralität gibt es nicht, man weiss einfach, wann es sich zu schweigen lohnt. Oder um es mit Friedrich Dürrenmatt zu sagen: «Neutralität ist eine politische Taktik, keine Moral. Neutralität ist die Kunst, sich nützlich oder möglichst ungefährlich zu verhalten.»

 

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Azor | Film | Andreas Fontana | CH-FR-ARG 2021 | 100’ | Zurich Film Festival 2021, Filmar en América latina Genève 2021, Solothurner Filmtage 2022

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First published: January 17, 2022