Ága

[…] Lazarov porträtiert ein sich liebevoll zugewandtes Paar mit ethnografischer Genauigkeit und sehr viel Ruhe. Und es ist, als wollte er nebenbei dem Handwerk und der Überlebenskunst der indigenen Volksgruppe ein filmisches Denkmal setzen.

[…] «Ága» erzählt die Geschichte eines Endes, das zugleich einen Aufbruch bedeutet. Lazarovs nüchterne Bildsprache und behutsame Montage tragen die Handlung mit. Sie lassen es zu, dass wir den Protagonisten nahekommen.

Über Wärme und Nähe in der Kälte

Anfangs verraten nur die Kondensstreifen gelegentlich vorüberziehender Flugzeuge, dass wir uns in der Gegenwart befinden. Wenn sich die Kamera des bulgarischen Regisseurs Milko Lazarov wieder der Erde zuwendet, landen wir am Ende der Welt – in einer surrealen Schneelandschaft im tiefsten Osten Sibiriens. Wir lernen Nanook (Mikhail Aprosimov) und seine Frau Sedna (Feodosia Ivanova) kennen. Wie ihre ewekischen Vorfahren führen sie ein anstrengendes und bescheidenes Leben. Während Nanook mit seinem Hundeschlitten zum Eisfischen hinausfährt, keuchend und stöhnend mit einem langen, spitzen Holzstab ein Loch in meterdicke Eisschichten klopft, bereitet Sedna in ihrer dunklen Jurte das Essen zu oder mischt Salben zur Verarztung ihrer Wunden an. In der Abgeschiedenheit bestreiten sie gemeinsam ihren Alltag. Lazarov porträtiert ein sich liebevoll zugewandtes Paar mit ethnografischer Genauigkeit und sehr viel Ruhe. Und es ist, als wollte er nebenbei dem Handwerk und der Überlebenskunst der indigenen Volksgruppe ein filmisches Denkmal setzen.

Denn das Leben der gemeinsam Einsamen wird härter. Längst gibt es keine Rentiere mehr in der Gegend, der Frühling setzt laut Nanooks Beobachtungen immer früher ein und Fische finden sich nicht mehr so zahlreich in ihren Netzen. Vorboten einer bevorstehenden Veränderung. Gedanken und Ängste äussern Nanook und Sedna oft durch anekdotische Erzählungen; sie reden über ihre Vergangenheit, erzählen sich Legenden oder Träume. Sie haben eine ganz eigene, symbolische Art der Kommunikation gefunden, die im Verlaufe des Films eine die Handlung überlagernde tiefere Bedeutungsebene entwickelt.

Aber es gibt auch die alltäglichen Gespräche, die zeigen, wie fremd diese zwei letzten Menschen im Eis der Zivilisation sind. In einer Szene lässt der Regisseur Nanook auf einem Schemel in der Jurte sitzend die Wochentage aufzählen: «Montag, Dienstag, Freitag.» «Mittwoch, Donnerstag, Freitag», korrigiert ihn seine Frau amüsiert und es scheint so, als würden sie sich über das ihnen fremde Regelsystem gemeinsam lustig machen. Gemeinsam kann ihnen die Welt gestohlen bleiben. Doch was, wenn einer der beiden nicht mehr da sein sollte?

Eine Person fehlt bereits in ihrem Leben. Es ist ihre Tochter Ága (Galina Tikhonova), zu der sie keinen Kontakt mehr haben. Der eigentliche Konflikt zwischen Eltern und Tochter bleibt unausgesprochen, doch ihr Wunsch nach Versöhnung und Wiedervereinigung steigt mit der zunehmenden Bedrohung ihrer Existenz in der eisigen Tundra. Lazarov verwebt diese beiden Erzählstränge, doch bleibt der Überlebenskampf zentral, bis zu dem Moment, in dem sie ihn letztlich verlieren. Sedna stirbt an ihren Verletzungen und Nanook macht sich auf den Weg, die gemeinsame Tochter zu finden.

Ága erzählt die Geschichte eines Endes, das zugleich einen Aufbruch bedeutet. Lazarovs nüchterne Bildsprache und behutsame Montage tragen die Handlung mit. Sie lassen es zu, dass wir den Protagonisten nahekommen. Die Nähe, die das Paar zu einander hat, wird ebenso spürbar wie die Kälte, die sie umgibt. Lediglich das Sound Design wirkt streckenweise zu aufdringlich, es lässt Vertrauen in die Wirkkraft der Bilder vermissen. So wird etwa die Dramatik der Szene ausgereizt, wenn der Kniefall Nanooks vor dem Grab seiner Frau mit einem Paukenschlag auf der Tonebene einhergeht. Zurück bleibt nichtsdestotrotz eine Geschichte, die einem selbst wie eine Legende in Erinnerung bleibt. Die Legende von Nanook und Sedna, den letzten zwei Menschen im Eis.

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Ága| Film | Milko Lazarov | BG-DE-FR 2018 | 96’

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First published: November 13, 2018