Explore by #Locarno Critics Academy
First Time
¡Sensación de vivir!, but genuine
Proportions aside, one cannot miss the Warholian provocation of Nicolaas Schmidt’s First Time: The Time for All but Sunset – Violet. In short, nothing happens; yet similarities stop here, right at the 30+-minute shot of two twinks standing one in front of each other in a train while awkwardly micro-flirting to no avail. Beforehand, a montage of Coca-Cola commercials flooded the screen, making it pretty clear that if anything, coke should be used as a social lubricant. Take all the easy-peasy brief encounters, motivational thoughts, spontaneous embraces, small meaningful gestures etc. that seem so familiar to us all, especially when colored red&white; after all, it’s been three generations of les enfants de Marx et du Coca-Cola. I think of my country, somewhere in Eastern Europe, where Coca-Cola started as a wild anti-communist fantasy right after ’89. This film, for instance, contains subtle documents of the drink itself – if you look closely enough, some of George the Poet’s pandemic posters appear, from time to time, outside the window; «I’ll keep social distance from bad energy», one says. As a gentle reminder of the other parent, the director edits a corny poster for us to see at all times – «sadness is capitalism’s manifestation in our life».
Schmidt has a precipitous, unapologetically quirky approach to cinema… let’s call it the FilmFreeway effect. In this respect, his experiment, which fancies the real-time theoretical arsenal, quickly turns its face to “the others” – manipulators of the image, or imagists, as André Bazin called them once, and the filmmaker is no blank profile guaranteeing discretion. His ludic choice of lights, more and more Instagram-pink as the sun goes down, has this weird effect of potentiating moods in the eyes of the spectator, a trickery we remember from silent film creators. As for music, sometimes diegetic, other times not, it plays a big role in dramatizing this slow-burn encounter. In fact, a cover of Robin Weck’s First Time prolongs the Coca-Cola vibe over a good deal of the film, striking the dialectics, and - no matter how basic - one of Kamakawiwoole’s Somewhere Over the Rainbow makes a nice match with our boy’s Pride t-shirt (the song’s queer roots, via Judy Garland, are indeed the final touch). First Time does an odd, odd good job, and its intelligence, as hip and pretty in pink as it can get, has nothing to do with austerity or grandeur.
(in collaboration with the Locarno Critics Academy)
First Time | Short | Nicolaas Schmidt | DE 2021 | 50’ | Locarno Film Festival 2021
Special Mention at Locarno Film Festival 2021
#FEMALE PLEASURE
«Was denken Sie über weibliche Lust und gleichgeschlechtliche Liebe?» – «Wir sind nicht in der Stimmung darüber nachzudenken». So verweigert der ältere hinduistische Priester jegliche weitere Diskussion. Eigentlich ist es lustig, wie er sich herauszuwinden versucht im Film #FEMALE PLEASURE, der erstmals zu sehen war in der Dokumentarfilm-Sektion von Locarno. Gleichzeitig ist es ein Armutszeugnis und steht für das Problem, dem sich die Schweizer Filmemacherin Barbara Miller (Forbidden Voices, 2012; Klitoris, 2005) angenommen hat: Weibliche Lust und deren weltweite Dämonisierung – insbesondere durch patriachalisch geprägte Weltreligionen.
Miller porträtiert, in einer didaktischen und traditionellen Struktur, fünf gestandene Frauen. Der Film lebt von diesen Protagonistinnen, die aus strenggläubigen Familien je einer Weltreligion stammen und damit gebrochen haben. (Scham-)Haarsträubend, welche Unterdrückungsmechanismen sich im Namen weiblicher Reinheit und Reproduktionslogik herausgebildet haben: So wird in der jüdischen Hochzeitsvorbereitung die Vagina als «schöner Flur für neues Leben» bezeichnet. Im katholischen Kloster erhielten Nonnen übergrosse Unterkleider mit dem Kommentar «Das tragen wir für unsere Mitbrüder» – zu Vergewaltigung kam es dennoch. Oder man erfährt von der Verhaftung der buddhistisch-schintoistischen Japanerin Rokudenashiko wegen einem 3D-Print ihrer Vagina. Penisparaden oder Porno zum Thema Kindervergewaltigungen sind in Japan aber erlaubt. Der somalisch-englischen Therapeutin Leyla Hussein folgt man bei ihrer weltweiten und geschlechterübergreifenden Aufklärungsarbeit zum Thema Genitalverstümmelung.
#FEMALE PLEASURE von Miller ist ein Film voller luzider, inspirierender Aussagen. Eine der wertvollsten Botschaften: Zur Entdämonisierung der weiblichen Lust braucht es die Zusammenarbeit mit den Männern. Was leider thematisch nach dem Filmanfang auf der Strecke bleibt, ist die Rolle der, wenn man so will, Religion der Gegenwart, dem Kapitalismus. Denn dieser produziert tagtäglich eine unglaubliche Bilderflut von Frauenkörpern, die wiederum zum Lustobjekt reduziert werden. (Locarno Critics Academy 2018, Katja Zellweger)
#FEMALE PLEASURE | Film | Barbara Miller | CH-DE 2018 | 97‘ | Locarno Festival 2018, Semaine de la critique, Solothurner Filmtage 2019
Prix Zonta Club Locarno at Locarno Festival 2018
Sibel
ONLINE STREAMING (Switzerland) on Filmexplorer’s Choice by filmingo.ch
Rebellin wider Willen
Ein Wolf im Wald. Ein Mädchen, das nicht dazugehört, und ein Brautfelsen, an dem seit Generationen Frauen mit Feuerritualen ihr Glück beschwören. Es sind das märchenhafte Zutaten, die das Regisseurspaar Çagla Zencirci und Guillaume Giovanetti in ihrem Film Sibel verwenden. Im Mittelpunkt steht eine junge Frau, die sich nur in ihrer regionaltypischen alternativen Pfeifsprache mit ihren Mitmenschen verständigen kann. Seit Sibel als Kind verstummte, ist sie in ihrem türkischen Bergdorf zur Aussenseiterin verdammt, und doch ist sie stark an die Dorfgemeinschaft gebunden. Nicht nur durch die tägliche Arbeit auf Teeplantagen und Maisfeldern, sondern auch emotional. Das Mädchen sucht Anschluss, will im Dorf anerkannt werden – vor allem unter den Frauen. Sibel wird so eher zu einem Sozialdrama als zu einem modernen Märchen.
Zencirci und Giovanetti stellen in ihrem Film eine kleine Dorfgemeinschaft vor, in der die soziale Kontrolle durch gesellschaftliche Zwänge aufrechterhalten wird. Als solcher ist wohl auch die kursierende Angst vor dem Wolf zu verstehen. Um das Dorf vor der ewigen Bedrohung zu befreien, unternimmt Sibel Streifzüge durch den Wald. Wir sehen ihr dabei zu, wie sie sich nach getaner Arbeit davonstiehlt, routiniert ihre hellbauen Ballerina-Schuhe gegen rote Gummistiefel tauscht und mit einer Flinte bewaffnet die Wälder am Fuss des Brautfelsen durchstreift. Doch anstatt des Wolfs trifft sie Ali, der sich auf der Flucht vor dem Militärdienst befindet. Er wird zur verhängnisvollen Projektionsfläche, sie zur Komplizin. Hier kommt für einen kurzen Moment die politische Gegenwart der Türkei ins Spiel. Wollen die Regisseure im Kleinen kommentieren, was im Grossen und Ganzen vorgeht?
Als Hauptfigur ist Sibel schön, aber nicht gefällig. Sie ist in ihrer Verletzlichkeit widerspenstig und dadurch durchaus sympathisch. Als Charakter bleibt sie aber leider in ihrer Sprachlosigkeit gefangen. Ihr Schauspiel wirkt etwas zu eindimensional und wild, als dass man eine wirkliche Nähe zur tragischen Heldin Sibel aufbauen zu könnte. In Märchen siegt das Gute immer über das Böse. Sibel ist ein Film über eine Rebellin wider Willen, die es vielleicht nicht schafft, sich allen Zwängen zu widersetzen, der es am Ende aber gelingt, eine Tradition für sich zu einzunehmen. Sibel entfacht ein Feuer am Fusse des Brautfelsens, für sich und für die anderen Frauen im Dorf.
Sibel | Film | Çagla Zencirci, Guillaume Giovanetti | TK-FR-DE-LU 2018 | 95’ | Locarno Festival 2018