Schlingensief 2020: Die Kontamination bleibt

Essay by Matthias Wittmann

Schlingensief 2020: Die Kontamination bleibt

Und auch: «Schlingensief 2020: Der Anspruch der Moderne und Postmoderne». Oder: «Schlingensief 2020: Der punkige Anspruch der Dialektik zwischen Moderne und Postmoderne». Und noch besser: «Schlingensief 2020: Der re-animierende Anspruch einer gigantomanischen, hysterischen, amateurhaften, kontaminierenden Bilderstörungsmaschine».

Bettina Böhler rekonstruiert das Schaffen eines bildbesessenen Ikonoklasten. Und Matthias Wittmann schreibt nicht nur über Böhlers Film und Christoph Schlingensief tout court, sondern nimmt mit seinem Essay eine wichtige, vielleicht notwendige Neupositionierung gegenüber einer der stärksten, lautesten und punkigsten Stimmen des Postmodernismus vor. Und die Kontamination bleibt.


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SCHLINGENSIEF 2020: DIE KONTAMINATION BLEIBT

«Die Bilder verschwinden automatisch und übermalen sich so oder so! – ‹Erinnern heisst: Vergessen!› (Da können wir ruhig unbedingt auch mal schlafen!)», lautet Christoph Schlingensiefs letzter Blog-Eintrag, datiert vom 7.8.2010. Ein paar Tage später erliegt er seiner Krebserkrankung in Berlin. Die Übermalung, Überblendung – als Ineinander von Erinnern und Vergessen – ist ein wiederkehrendes Motiv in Bettina Böhlers virtuos montiertem Dokumentarfilm Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien, der mehr ist als ein blosser Nachruf oder eine devote Nachlassverwaltung. Böhler – sie hat Filme von Christian Petzold, Oskar Roehler, Angela Schanelec, Dani Levy, Margarethe von Trotta und eben auch zwei von Christoph Schlingensief mitgestaltet (Terror 2000 – Intensivstation Deutschland; Die 120 Tage von Bottrop) – hat sich von Schlingensiefs künstlerischem Prinzip, Anschlussstellen durch Überblendungen zu multiplizieren, inspirieren lassen und mit einem erstaunlichen Sensorium für Synapsen einen Weg durch ein überbordendes Dickicht an O-Tönen, Filmszenen, Aufzeichnungen von Strassenaktionen und Theaterstücken (resp. -proben), privaten Filmaufnahmen (8mm) und Fernsehproduktionen, Talkshows und Interviews gefunden, wobei hier die Präsenz von Alexander Kluge als Gegenüber auffällt.

Die Arbeit einer Filmeditorin besteht darin, unaufhörlich Entscheidungen treffen und damit Möglichkeiten reduzieren zu müssen. Böhler hat die richtigen Entscheidungen getroffen, wobei ihre Strukturprinzipien alles andere als aufdringlich sind. Dass Schlingensiefs “Theater der Handgreiflichkeit” höchst anschliessbar an unsere Gegenwart bleibt, zeigt Böhler gleichsam nebenher und ganz unprätentiös auf, ohne uns diese Frames, Kontexte und Kontaktpunkte aufzuzwingen. Ich möchte es als grossen Vorzug des Films sehen, darauf verzichtet zu haben, Schlingensiefs Vermächtnis durch den Fleischwolf aktueller – mehr oder weniger «woker» – Feuilletondebatten gejagt und dadurch einordnungsbar gemacht zu haben: Mansplaining mit Megafon? Cis-Wohlstands-Kunst? Appropriation? Unsafe Spaces ohne Triggerwarnungen? Vielleicht alles ein bisschen sehr eng gefasst, um den von Schlingensief hinterlassenen Steinbruch zu fassen. Trotzdem schafft es der Film, uns dazu zu bringen, unaufhörlich Überblendungen zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu generieren. Wir dürfen uns in Ambiguitäten hineinziehen lassen, in einen sehr gekonnt montierten Strudel aus einander widersprechenden Stimmen, und uns dabei zusehen, wie diese vergangenen Debatten aktuell auf uns wirken, das heisst auch: wie die aktuellen Debatten unseren Blick auf die vergangenen Aktionen verändert haben. Hierbei können wir einerseits feststellen, wie viel sich seitdem verändert hat. Andererseits können wir merken, wie sehr der Schlingensief-Komplex fehlt und wie viel er uns über gegenwärtige Sensibilitäten und Konfliktlinien erzählt. Dies erreicht Böhlers Dokumentarfilm bemerkenswerterweise ganz ohne Interviews mit Menschen, die Schlingensief er- und überlebt haben und ihn nun erinnern, «anhimmeln».

Ich spreche aus mehreren Gründen von einem «Schlingensief-Komplex»: Komplexe sind komplexe Umwandler und Übersetzer, die verschiedene Felder und Diskurse verbinden. Sie sind assoziativ. Komplexe sind Dispositive, heterogene Ensembles, die auf Krisen reagieren und intervenieren. Komplexe sind Macht und Gegen-Macht zugleich, Widerstandspunkte, -knoten und -herde zwischen Krankheit und Heilung. Are we part of the desease or part of the cure? Schlingensief war nicht nur Ministrant, er war auch Apothekersohn aus Oberhausen und sprach viel von Gift und Gegengift, Kontamination und Infizierung, Metastasen und Zellen, Parsifal und Wunden, die unerlöst bleiben. Gleichzeitig hat er notorisch oft betont, kein Esoteriker zu sein. Zweifellos hatte Schlingensief einen Hang zum Sektenguru und Prediger, der einem bestimmten «Charismabedürfnis» (Diederichsen) entsprochen hat und diesem gegenwärtig auch immer noch – mehr denn je? – entsprechen würde. Und wenn es etwas gibt, das aus heutiger Perspektive tatsächlich etwas befremdlich, ja auch abgestanden wirkt, dann ist es Schlingensiefs Kokettieren mit dem – von Richard Wagner, Rainer Werner Fassbinder, Luchino Visconti, Helmut Berger, Joseph Beuys, Otto Mühl – inspirierten Gesamtkunstwerk-Diktator, der nicht aufhören kann, Naziuniformen zu tragen, bis sich alle Nazimoleküle abgenützt haben. Gegenwärtig trägt der um sich greifende Faschismus so diverse Uniformen, dass Naziuniformen nicht mehr hinreichen. Doch hat Diedrich Diederichsen richtig bemerkt, dass die grosse Kunst auch von Schlingensiefs Narzissmus darin bestand, sich in viele Stimmen aufzulösen: «Hier hat Schlingensief dann doch etwas von gewissen kooperativen Theatertraditionen innerhalb der afrikanischen Ästhetik gelernt: das Arbeiten mit Performance-Formaten, die nicht mehr von einem einzigen Anfang ausgehen, die nicht auf der Funktion einer einzigen Autorität basieren, sondern die Kollektivimprovisation durch die Vervielfältigung der Akteure bewältigen. Da waren dann plötzlich ganz viele Christophs oder anderweitig Verantwortliche auf der Bühne.»

Zu diesem Schlingensief-Komplex gehört eben auch, dass sich Schlingensief – hierin Andy Warhol anschliessbar – zur Echokammer und Bühne vieler Stimmen machen konnte, von denen er – die Kommunikations- und Anverwandlungs- und Nicht-nur-Junggesellenmaschine, sondern manische Inklusionsmaschine – ganz offensichtlich viel gelernt hat. Zu diesem Komplex gehören all die Gefährt*****innen, die so viele Behinderungen, Dachschäden und Risse in der Optik hatten, dass hierfür alle Sterne des Himmels nicht ausreichen: Udo Kier, Alfred Edel – den Schlingensief in Böhlers Film neben Fassbinder und Buñuel als grosses Vorbild anführt –, Tilda Swinton, Helmut Berger, Sophie Rois, Helge Schneider – der für Böhlers Film die Musik beisteuerte –, Achim von Paczensky – einer von vielen behinderten Menschen, die Schlingensief aus einem Berliner Heim in sein Ensemble aufnahm – und die grossartige, vor kurzem verstorbene – auch: Fassbinder-Schauspielerin – Irm Hermann, die das mit Sarkasmus ausagierte, was Schlingensief mit Hysterie ausagierte: die Parodie der eigenen Tragödie. Für mich war Irm Hermann immer die verkörperte Subversion aller Charaktermasken, die Paula Wessely mit Affirmation getragen hat. Also gleichsam Wesselys uneingestandenes Unbehagen in den Frauenrollen nach aussen gefaltet und sarkastisch gewendet. Hermann verstand es kongenial, «Mutters Masken» aus den Filmen von Veit Harlan bis Gustav Ucicky so zu überblenden, dass sie zur Karikatur ihrer selbst wurden.

Böhlers Film versteht es nicht nur virtuos, die Stimmenvielfalt des Schlingensief-Komplexes nachzuzeichnen – gerade indem sie Schlingensief mit Schlingensief verschaltet und die vielen Schlingensiefs einander ins Wort und ins Bild fallen lässt –, sondern auch versteckt, aber insistent bestimmte ästhetische, auch musikalische Strukturprinzipien zur Wirkung zu bringen. Wir haben das Prinzip der Partitur, das heisst Stimmen, die nebeneinander geführt werden und sich immer wieder durchkreuzen, verknoten, schichten: private und öffentliche Stimmen; todesängstliche und grössenwahnsinnige Stimmen; Stimmen, die gefallen wollen, und Stimmen, die provozieren wollen; pathetische und (selbst-)ironische, aber nur sehr selten zynische Stimmen; inklusive und exklusive Stimmen; halbstarke und weise Stimmen; kontrollfreakige und antikontrollfreakige Stimmen; katholizismuskritische und (post-)theologische Stimmen; modernistische und postmodernistische Stimmen; esoterische und materialistische Stimmen; trashige und hochkulturelle Stimmen; sehr deutsche und gar nicht deutsche Stimmen. Der Film weiss jedenfalls, dass Schlingensief mehr war als ein gigantomonomanischer «Fitzcarraldo in Burkina Faso». Es hatten sehr wohl sehr viele Menschen, ja, auch ihren befreienden Spass mit Schlingensief. Sein Humor, seine Selbstironie wird oft vergessen und uns mit diesem Film wieder vor Augen geführt.

Zu der Partitur gesellt sich ein zweites Prinzip: das Prinzip der Lebenslinie, die jedoch keine Linie sein will, sondern sich ständig selbst durch Transversalen und Parallelmontagen auflöst, ausfranst, die eigenen Toleranzbereiche überschreitet; die entarten, ausarten, über Funktionen, Ziele hinausschiessen will, bis daraus Simulationen entstehen, die uns die Inszenierung des Lebens, all die Funktionsverteilungsmaschinchen inmitten unseres Lebens sehen und reflektieren lassen. Wenn es einen Feind in Schlingensiefs überschüssigem Leben gibt, dann ist es die Funktion, das Ziel, der Nutzen. Auch das weiss Böhlers Film sehr genau, der diese Liebe zum Überschuss an uns weitergibt. Genau genommen ist der Film voller sensationeller Fundstücke (u. a. die junge Angela Merkel, sogar etwas verklärt-verliebt dreinblickend, neben Schlingensief) und voller verstörender Momente (ein Messdiener, der dem todkranken Schlingensief gleichsam zum eigenen Ableben kondoliert – «Aber ich bin doch noch nicht tot!») oder auch wirklich sehr dreiste, selbstherrlicher Statements («Ich selber bin das Echo meiner eigenen Schöpfung»), auch wenn dann immer das unerlöste Scheitern im erlösenden «Es ist vollbracht» hinzukommt.

Doch der Film exponiert diese Momente und Funde nicht eitel, sondern lässt uns eine Wahl treffen, die auf einer entschiedenen Vorauswahl beruht. «Zum Gebrauch hinwerfen», wie Schlingensief also seine Lebenslinie ständig sich über Toleranzzonen hinaus entgrenzen lässt, so versucht auch Böhlers Film – trotz des filmischen Zwangs zum linearen Erzählen –, aus einem Lebensstrahl eine Spirale aus wiederkehrenden Motiven, Knoten, Insistenzen zu biegen, in der zwar chronologisch – gleichsam von Intensivstation zu Intensivstation – erzählt wird, doch über die Chronologie hinweg unterschiedliche Zeiten, Schichten in Kontakt treten, alte/junge, übermütige/lebensmüde Schlingensiefs miteinander reden.

Zu der Partitur und dem Lebensstrahl, der zum Strudel, zur Spirale wird, kommt die Figur der Überblendung und des Bildstillstands: Das Verschmoren, Draufgehen des Bildes im Projektor ist Angst- und Sehnsuchtsmotiv gleichzeitig. Hier gibt es dann doch eine Art Vorahnung des Todes, auch wenn Böhler es unterlässt, was begrüssenwert ist, in Schlingensiefs Leben nach klischeehaften Vorzeichen eines verfrühten Künstlertodes zu suchen. Doch das verschmorende Bild, das Schlingensief in Tunguska – Die Kisten sind da (1984) innerdiegetisch simuliert, ist so etwas wie eine Todesdrohung, vor allem, wenn Schlingensief berichtet, dass es bei der Vorführung exakt dieses Films dann tatsächlich zu einem Filmstillstand und einem Durchsengen des Bildes kam, als wäre es zu einer Kontaktübertragung zwischen vorgeführtem Film und Filmvorführung gekommen. Solange man jedoch in die Simulation zurückkann, solange der Film weitergeht, der Schnitter nicht die letzte Schere angesetzt hat, geht auch das Leben weiter. Schlingensief hat sein Leben in Filmmetaphern erinnert und in Montagen von Disparatem gedacht. Die Wahrheit gilt es in den Überblendungen, in Konstellationen, im Zusammenschliessen (aber nicht Schmelzen!) von disparaten Materialien, Menschen, Zeichen zu suchen, eher nicht zu finden.

Deshalb ist auch die Überblendung so wichtig in Böhlers Film. Noch einmal: «Erinnern heisst: Vergessen!» Das ist ein Satz, den Schlingensiefs Vater angeblich prägte, in dem sich Deutschlands Erinnerungs- qua Verdrängungspolitik gleichsam kristallisiert. Das ist aber auch ein Satz, von dem sich Schlingensief kontaminieren liess, den er anverwandelte und zum ästhetischen Prinzip machte. So wie Schlingensief einen filmtechnischen Zu- und Unfall retroaktiv als «Urszene» seines Lebens etablierte: 1968, als Schlingensief acht Jahre alt war, machte sein Vater Aufnahmen mit einer Doppel-8-Kamera. «Mit einer Doppel-8-Kamera zu drehen, bedeutete auch, dass erst eine Hälfte des Films belichtet wurde, später im Rücklauf dann die zweite.» Eines Tages sass die Familie Schlingensief da und sah, dass ein Kodak-Urlaubsfilm aus Versehen doppelt belichtet, das heisst zweimal umgelegt wurde: «Ich sehe, wie meine Mutter und ich am Strand liegen – aber über unseren Bauch laufen plötzlich Leute.» Wie Georges Méliès’ erster Stopptrick (Autobus > Leichenwagen) bekanntlich durch einen Zu- und Unfall – das wiederholte Einlegen einer schon benutzten Filmrolle – entstand, so begreift Schlingensief eine «Störung der Verweisung» (Geimer) als Urszene seines Weltverhältnisses. Subjektivität: Das ist ein Geflecht aus Irritationen, Störungen und Asynchronitäten, aus Mehrfachbelichtungen, Assoziationen und Inkongruenzen, aus Infizierungen, Transversalen und Widersprüchen. Und Erinnern: Das ist rastloses Überblenden, Überschreiben, Umschreiben und Deckerinnern. Wie im Filmprojektor schiebt sich ein Bild an die Stelle des vorhergehenden. Das ist freilich noch sehr analog, filmmaterialistisch gedacht. Im Wahrnehmungsbewusstsein, im Körper, in den Zellen, in der Kommunikation findet das tatsächliche Umkodieren, Morphing, Warping, Tweening, Cross-Dissolving, Compositing oder Datamoshing statt. Dort überlagern, durchkreuzen, verdecken, verzerren, zerstückeln sich diese Bilder gegenseitig. Selbst wenn alles Simulation ist, bleibt eine schmerzvolle, echte, nicht arbiträre Referenz, die vielleicht auch verantwortlich ist für dieses Simulationsbedürfnis. Und es bleibt das Recht, sich wahrzusprechen, mit allen Mitteln der Simulation. Das Bild ist die Kompresse, die die Wunde heilt, zusammenhält und ständig neu aufklaffen lässt. Anders als Amfortas’ Wunde, die Heilung findet, indem sie von dem (vergifteten) Speer wieder berührt wird, bleiben die Wunden im Schlingensief-Komplex allerdings unerlöst. Und Kunst(-religion) bleibt Überlebenstechnik. So schön wie im Himmel kann’s hier, im Tal der unerlösten Freaks, gar nicht sein.

Wichtig ist, dass vergangene und gegenwärtige Bilder nicht zur Deckung kommen. Schlingensiefs postkatholischer Aktionismus war radikal anti-konservativ und anti-nostalgisch. Nur kein Bildstillstand! Das zeigt Böhlers Film überzeugend auf. Mit Walter Benjamin trifft sich Schlingensiefs subversive Transsubstantiationslehre darin, dass sich die Qualität eines Stoffs in seiner Übersetzbarkeit zeigt. Wir können nicht zurück in die Vergangenheit und das ist gut so! Im Riss, im Asynchronen, in der Bewahrung eines Strudels von Ungleichzeitigkeiten merken, erfahren wir, wer wir gegenwärtig wirklich sind. Hamlet ist für alle da, von allen bespielbar, besetzbar, deutbar, er ist die Joker-Maske, die sich jede(r) aufsetzen kann, auch eine Gruppe ausstiegswilliger Neonazis. Wir können nicht anders, als den Schmutz, die Stoffe, die Energien, die Moleküle, die Fetzen der Vergangenheit unaufhörlich durch die Gegenwart zu jagen und uns selbst durch das Material, die «Bildkompressen» (Theweleit) zu schicken, um in diesem rastlosen Durchgang «Zellen entarten» zu lassen, Kontaminationen und Metastasen zu produzieren, die uns am Leben halten, auch wenn sie uns eines Tages umbringen werden. Metastasen sind gleichsam das Unsterbliche in uns: «Also, wie geht es mir gerade? […] Ich habe seit einiger Zeit etwas in mir, was nicht sterben will. Die Unsterblichkeit ist in mir zu Gast. Und diese Unsterblichkeit kann töten – mich. Der Gottvater oder der Herrgott oder wie auch immer der heisst, kann auch nicht sterben.» In Sätzen wie diesen, die Schlingensief kurz vor seinem Tod notierte, postum von Aino Laberenz herausgegeben, zeigt sich das Draufgängerische, Überschüssige, das – nicht erst aus heutiger Perspektive – auch Anachronistische, Halbstarke, Anmassende, Hybride von Schlingensiefs Kunst- als Lebensverständnis.

«Echtheit» ist das Wort, das mich persönlich in Schlingensiefs Statements am meisten (ver-)stört, auch ärgert. Hierin ist er Romantiker geblieben, der zwischen einem Romantizismus der Echtheit («Die Wahrheit liegt im Extrem») und einem Romantizismus der unreinen Monstrosität, zwischen dem heiligen, erlösungsversprechenden Gral und den irdischen Fesseln dann doch irgendwie mehr pendelt, als dass er diese Binarität durchgestrichen hat. Viel interessanter sind jedoch die verstörenden Schnittmengen, die Schlingensief zu generieren imstande war, die Konfliktzonen zwischen Simulation und (Gegen-)Simulation, Wirklichkeit und Zerrspiegel, der dazu zwingen will, Position zu beziehen und politisch zu werden.

Nichts sein, alles simulieren. «Was, wenn ich nie echt wahrgenommen werde, auch wenn ich echt sein will?» Das ist dann auch jenes Dilemma inmitten des Schlingensief-Komplexes, das in Böhlers Dokumentation wie ein (versteckter) Refrain wiederkehrt: das Trauma des zweimaligen Abgelehntwordenseins an der Münchner Filmhochschule. Die Angst, nicht ernst genommen zu werden. Was, wenn alles, was ich tue – das Theaterregisseursein, Experimental-Filmemachersein, Politikersein, Aktionistsein, Musikersein, Dramaturgsein, Schauspielersein –, nur Simulation ist? Ein sehr postmodernes Dilemma, auch. Was, wenn ich nicht einmal ein Trauma habe, weil mein Leben in deutschem Wohlstand und Bürgertum verankert ist, weil mein Kult des «positiven Dilettantismus» Ausdruck von Luxus ist («Ich kann es mir leisten»)? Was, wenn mein Leben ein selbstbezüglicher Strudel der Selbsttraumatisierung ist? Was, wenn ich sogar für den Satz «Tötet Helmut Kohl» nicht wirklich festgenommen werde, weil alles, was ich tue, in einer Bubble der Simulation stattfindet, die Anschlusssimulationen generiert? Was, wenn man mir letztendlich auch meinen eigenen Schmerz, meine Todesangst nicht glauben wird, so wie ich in der Liebe nicht glaubwürdig war («Du wirst niemals einen Menschen lieben können!»). Und was, wenn das einzige Ereignis, das mich daran hindern wird, wieder ins Bild zurückzukönnen, mein Tod sein wird, so wie das verschmorte Filmbild damals plötzlich keine Simulation mehr war, sondern der Vorführung ein abruptes Ende setzte?

Was aber, wenn doch ein Weg gefunden wurde, aus diesem narzisstischen Spiegelkabinett der Selbstmultiplikation und Selbstzerklüftung auszubrechen? Das zeigt sich in Böhlers Dokumentation dann, wenn Schlingensief darüber spricht, wie wichtig es ist, «Fremdton», Vielstimmigkeit zuzulassen, Demokratie aktiv mitzugestalten, indem man Singularitäten ein Recht auf Differenz, auf Angst, auf eine Stimme gibt. Wer einmal eine Aktion von Schlingensief – wie ich in Wien – erleben konnte, der/die wird gemerkt haben, dass der «Kontrollverlust», das Scheitern, das Zusammenbrechen von Grenzen zwischen Realität und Kunst – «Vielleicht stimmt das ja wirklich, was wir da sehen?» – nicht blosse selbstherrliche Rhetorik (Koketterie) war, sondern eine Praxis, die anderen Menschen viel Raum geben konnte, sich über Fiktionen wahrzusprechen. Hier ging es tatsächlich immer wieder darum, Menschen dazu anzustacheln, das Wort zu ergreifen, weil es keine falschen Worte gibt («Wieso soll nur das stimmen, was Godard sagt? Es gibt auch Leute, die 16 Mal und nicht 24 Mal in der Sekunde die Wahrheit sehen!»). Vielleicht auch ist der Ort der Wahrheitsproduktion längst nicht mehr das Kino, sondern eine «Bilderstörungsmaschine» (Schlingensief) zwischen verschiedensten Medientechniken und Screens. Wenn Schlingensief eine Wahrnehmung virtuos beherrscht – oder eben nicht «beherrscht» – hat, dann ist es die «Wahrnehmung in der Zerstreuung» (Benjamin). Gegen Ende seines Lebens hat sich Schlingensief an einem «Animatographen», einer Drehbühne, einer Bilder-Montier-Maschine abgearbeitet, die in verschiedensten Kontexten, u. a. in Bayreuth zum Einsatz kam. «Anima ist die Seele. Animatograph ist der Name einer der ersten bildprojizierenden Apparaturen. “Der Animatograph” zeichnet auf, was in der Seele geschieht, ein Seelenschreiber.»

Die schillernde Diversität des «Animatographen», seine radikal anti-identitäre Identitätspolitik, vermag jedes noch so vorbildliche Diversity-Management plötzlich als ausgesprochen blass, eng, einfältig, kleinkariert zu entlarven. Schlingensief wird gerne mit Milo Rau verglichen. Keine Frage, beide Künstler haben einen Hang zu Gigantomanie, eine Liebe zum Gesamtkunstwerk und stellen Fragen danach, was im Rahmen der Kunst gerade noch oder gerade nicht mehr möglich ist, weil das, was in dem Rahmen stattfindet, über den Rahmen hinaus- und in die Realität eingreift. Wo Milo Raus Globalhumanismus dann aber doch ein klein wenig zu selbstgerecht meint, wissen zu können, wie eine erlöste Welt auszusehen hat – nach dem Motto: «Ich male ein Square auf den Boden und innerhalb dieses Vierecks herrscht Gerechtigkeit» –, agierte Schlingensief lokaler, vielleicht auch tatsächlich dilettantischer – im Sinne von hysterischer, widersprüchlicher, ohne klare Vision –, und setzte sich selbst den Eskalationen und Kontaktkontaminationen viel stärker aus; auch wenn er Monteur (mit wachem Sensorium für Rhythmen) inmitten des Kontrollverlustes blieb. Genau diese Offenheit und Anschlussfähigkeit seiner Montagen, diese responsive Intelligenz, etwas zuzulassen, (manchmal) auch wirklich zuzuhören, zu reagieren und zu improvisieren – sprich: Stimmen und Stimmungen situationistisch zu bündeln (und Schlingensief ist sicher an Fluxus und Situationismus anschliessbar), unterschiedet Schlingensiefs Kunst auch von dem, was Moira Weigel einmal als strukturstrengen «Sadomodernismus» bezeichnet und Michael Haneke attestiert hat. Schlingensiefs Kunst ist auch eine Kunst des Machtabgebens, Kontrolleabgebens.   

Kunst und Öffentlichkeit müssen umkämpfte Orte bleiben. So wie die Bilder sich in der Überblendung zusammendrängen, so definiert sich der Aktionismus – Schlingensiefs Aktionismus – darüber, ständig ins Bild zurückzuwollen. Wie kommt man immer und immer wieder ins Bild, auf die Bühne, in den Wolfgangsee, nach Bayreuth, ins Fernsehen (dcpt!) zurück, um von dort aus zu stören und in die Wirklichkeit einzugreifen? Das wahre Gefängnis, die wahre Simulation ist die Wirklichkeit, aus der wir mit den «echten» Mitteln des Aktionismus, mit Gegen-Simulationen auszubrechen haben, um uns vor allem an den Orten der Friktion zwischen diesen Simulationen (mindestens) zu erfahren.

Während ich Böhlers Film sah, fragte ich mich, wie sich Schlingensief wohl zur Gegenwart der Pandemie verhalten würde. Die Pandemie ist kontingent, sie ist aber auch voll sozio-politischer Implikationen und Konstruktionen. Sie führt uns vor Augen, wie schnell die Gesellschaft durch verteilungsgerechte Massnahmen (siehe Portugal) veränderbar wäre, sie führt uns aber auch die Gefahr der Sehnsucht nach einer Rückkehr zur Normalität vor Augen. Kurz stellte ich mir gerne vor, wie Schlingensief mit dem Megafon im Wolfgangsee steht und brüllt: «Wir alle sind die zweite Welle!» Dann bin ich kurz erschrocken, denn genau das war jüngst in Berlin auch vonseiten der Masken- und Impfgegner zu hören. Dann wiederum viel mir ein, dass «Wir sind die Welle» ja auch der Titel einer aktuellen Netflix-Serie über Jugendprotestkultur lautet. Und dann dachte ich mir: Ganz genau, wir alle haben Angst vor Kontamination und Meta-Kontamination. Genau das wusste Schlingensief und seine Church of Fear: «Der Angst ein Bild geben. Man wird das, wovor man Angst hat, und treibt es aus.»

Genau das wusste auch Schlingensiefs Container-Aktion Ausländer raus (2000), die ich selbst in Wien im Rahmen der Wiener Festwochen erleben konnte und die mir bislang tatsächlich unerreicht scheint. Böhlers Film liefert hierzu wenig Kontexte, das ist aber kein Problem (es funktioniert auch so): Im Herzen Wiens, neben der Staatsoper, stellte Schlingensief einen Container à la «Big Brother» auf, um Regierung und Bevölkerung einen Zerrspiegel vorzuhalten und jene Politik bis zur letzten Konsequenz durchzuspielen, die mit der rechtskonservativen Wende 1999/2000 (die FPÖ wurde mithilfe der ÖVP Regierungspartei) in der Mitte der Gesellschaft angekommen war: «Wir nehmen Haider-Sätze und spielen sie durch.» Schlingensief liess zwölf Asylbewerber in den Container einziehen, der Container war mit Wahlkampfsprüchen der FPÖ beklebt, auf dem Dach gab es ein «Ausländer raus»-Schild und die Österreicher waren dazu aufgerufen, Insassen aus dem Container und aus Österreich herauszuwählen. Um den Container kam es nicht nur zu Wortergreifungen (in alle politischen Richtungen), sondern zu Handgreiflichkeiten. Alle sahen sich aufgefordert, zu reagieren. Touristen meinten, dass der Rechtautoritarismus in Österreich tatsächlich schon so weit sei. Die Verunsicherung, dass das stimmen könnte, was man sah, wurde für mich zur Gewissheit, dass wir es längst mit einer gesellschaftlichen Mitte – buchstäblich: mit dem Herzen Wiens – zu tun hatten (und haben), in der menschenverachtendes Handeln als Normalität angekommen war. Die Aktion lebte von der Verunsicherung, ob das Fakt oder Fiktion ist. Die Luft war voller Kippmomente, Schlingensief zum Teil auch sichtlich überfordert. Mit so vielen Österreicher*innen am Rande des Nervenzusammenbruchs hatte er nicht gerechnet. Als Student*innen, Regierungsgegner*innen auf das Dach des Containers kletterten und das «Ausländer raus»-Schild abmontierten, war ein Höhepunkt dieses (Eben-nicht-mehr-)Spiels mit Realitäts-Fiktions-Schnittpunkten erreicht. Aus der Innenperspektive der Simulation betrachtet, war das eine gute, symbolische Tat: Ein menschenverachtende Aufschrift wurde zerschlagen, die «Indianer» waren befreit. Man spielte also mit. Doch aus der Aussenperspektive der rechtskonservativen Regierungsparteien haben die Demonstrant*innen, ohne es zu wollen, ebenfalls eine gute Tat vollbracht, denn sie haben für die Regierung die «Drecksarbeit» (Schlingensief) geleistet und den öffentlichen Raum von der unschönen Kunst befreit. Menschen wurden folglich dazu gebracht, im Durchgang durch diesen Zerrspiegel gegen sich selbst zu agieren und sich zu fragen: Wo stehe ich eigentlich? Kann ich mich selbst noch lesen? Schlingensief hatte eine Bilderstörungsmaschine im Herzen Wiens errichtet. Vielleicht würde Schlingensief gegenwärtig dann doch nicht mehr «Wir alle sind die Welle» rufen, sondern mit Maske – Mutters Maske? – und vielen Maskierten und vielen ambigen Botschaften auf diesen Masken am Wiener Ballhausplatz, vor dem Bundeskanzleramt stehen und – durch die Maske – kaum verständlich rufen: «Demaskiert Sebastian Kurz!»

Böhlers Film vermag es mit beeindruckendem Sensorium für Rhythmus und Virulenz (Ansteckungsfähigkeit!) – keine Einstellung ist zu lang oder zu kurz, es ist, also ob sich der Film selbst schneidet (hier liegt aber genau das unter- und hintergründige Können Böhlers) –, den Animatographen, die Bilderstörungsmaschine Schlingensiefs, in unsere Gegenwart hineinzutragen. «Die Energie wird bleiben», auch wenn diese Energie momentan fehlt. Vielleicht auch, weil sie in dieser Form schwer möglich ist. Faszinierend für mich – und diese Einsicht verdanke ich Böhlers Montagekunst – bleibt die befreiende Energie, die «utopische Stärkung» (Ernst Bloch), welche Schlingensiefs linksanarchistische, punkige, zwischen Moderne und Postmoderne taumelnde Bilderstörungsmaschinerie mit ihren ständig wechselnden, die Orientierung störenden Achsen zu erzeugen vermochte. Hier geht es eben nicht um postfaktische Politik oder eine falsch verstandene Postmoderne, die nur deshalb alternative Wahrheiten einführt, um im Schein des Perspektivenpluralismus und im menschenverachtenden Treibsand von Relativismen totalitäre Wahrheitsansprüche zu formulieren. Menschenverachtender Relativismus ist nicht gleichzusetzen mit postmodernem Perspektivismus. Hier geht es um eine rastlose, responsive, auch handgreifliche Lust am Austausch, am Mit-Teilen von Perspektiven, an der Pluralisierung von singulären Formen des Sichwahrsprechens, die kein letztes Bild, keine Kompletion der Welt in einer finalen Repräsentation suchen, sondern eine komplexe Realität von Relationen voller Repräsentationslücken, Ambiguitäten, fremder Töne und neuer Verbindungen. Ein guter Gedanke ist zerstörbar wie ein schützendes Zelt.

Schlingensief. In das Schweigen hineinschreien | Film | Bettina Böhler | DE 2020 | 124’

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