Im Geflecht der Deckerinnerungen

Essay by Matthias Wittmann

Im Geflecht der Deckerinnerungen. Über Rolando Collas «W. - Was von der Lüge bleibt»

«Erinnerung begreift sich nicht zu Ende», hat die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger einmal in ihrer autobiographischen Essaysammlung «Film und Verhängnis» (2001) notiert, in der sie ihr Leben über die Laufbilder des Kinos zu begreifen sucht. Erinnerung begreift sich deshalb nicht zu Ende, weil sie keine zufriedenstellende Schlusseinstellung, keinen «final take» finden kann. Weil sie nicht aufhören kann, in ständig neuen Anläufen und medialen Umwegen um Form, Fassung und Bestätigung zu ringen.

Binjamin Wilkomirskis Erinnerungen suchten Bestätigung und wurden als Lügen entlarvt. Sein Name, ein Deckname, steht mittlerweile nicht nur für einen Einzelfall, sondern für ein Syndrom: das Wilkomirski-Syndrom. Es geht um erfundene Erinnerung. Wobei hier sogleich ein Dilemma deutlich wird: Wo lässt sich, wenn es um Erinnerung geht, die Grenze zwischen Fiktion und Authentizität einziehen? Sind nicht genau genommen alle Erinnerungen aus zweiter Hand, Produkte von gegenwärtigen Impulsstrukturen, zu denen eben auch mediale Strukturierungen (Film, Fotographie etc.) gehören? Diese Instabilität unterscheidet das Schreiben der Erinnerung, die Mnemographie, von der Historiographie, auch wenn sich beide ergänzen oder durchkreuzen können. An beiden Graphien schreiben die Medien gehörig mit.

Nun hat der «Pseudologe» Binjamin Wilkomirski nicht nur Lügengeschichten als vermeintlich authentische Erinnerungen aufgetischt. Er hat sich das (Über-)Leben anderer Menschen als Erinnerung angeeignet. Das macht ihn aus der Perspektive vieler zu einem Erinnerungsvampir, einer Art Mnemo Snatcher. «Going victim» vermittels Appropriation. Wilkomirski hat sich aus verschiedenen Quellen – Büchern, Fotographien, Filmen, Begegnungen, Recherchen vor Ort – Pseudoerinnerungen an eine jüdische Kindheit in Riga zusammenmontiert und sich als Überlebender der KZs Majdanek und Auschwitz dargestellt, samt Waisenhaus-Aufenthalt in Krakau nach der Befreiung aus dem Vernichtungslager. In Wirklichkeit wurde Wilkomirski 1941in Biel (Schweiz) geboren, als uneheliches Kind Bruno Grosjean, der später adoptionsbedingt zu Bruno Dössekker wurde.

Die ge- und erfundenen, angeeigneten und zusammengebastelten Erinnerungen sind 1995 als Autobiographie bei Suhrkamp erschienen. Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939–1948 wurde zwar kein Bestseller (das wird oft behauptet), doch wurde die Pseudo-Autobiographie in zwölf Sprachen übersetzt und als «authentischer Augen- und Zeitzeugenbericht» zu einem Standard, an dem andere Bücher wie etwa Ruth Klügers Unterwegs verloren. Erinnerungen (2008) sich messen lassen mussten.

Der Autor trat als Zeitzeuge auf, besuchte Schulen, klagte erinnerungspolitische Versäumnisse an, gab mehrstündige Interviews (u. a. Steven Spielbergs Survivors of the Shoah Visual History Foundation). Mehrere Fernsehporträts wurden über ihn gemacht, sein Buch erhielt mehrere Preise (u. a. den Jewish Quarterly Literary Prize und den Zürcher Kulturpreis, der ihm dann jedoch wieder aberkannt wurde). Was erzählt uns das über den Literaturbetrieb? In der Tat sehr viel. Wilkomirski – dessen subjektiver Innenraum zweifelsohne ein sehr hellhöriger Echoraum war und immer noch ist – gelang es, Stimmungen zu bündeln und eine bestimmte Bedürfnislage zu bedienen. Suhrkamp brauchte eine authentische Autobiographie eines KZ-Überlebenden, und Wilkomirski lieferte, was das Publikum lesen wollte. Hinzu kam, dass die Schweiz wegen der Nazi-Raubgoldtransaktionen international unter Anklage stand. 

Die Erinnerungen, die Wilkomirski womöglich nicht nur im Widerstand gegen seine Schweizer Pflegeltern erfand, sondern auch in Reaktion auf eine komplexe gesellschaftspolitische Diskursformation um 1995 entwickelte, wurden dem undurchsichtigen Appropriationskünstler allerdings wieder weggenommen. Es war der Schweizer Autor und Journalist Daniel Ganzfried, ein Sohn Überlebender der Shoah, der Verdacht schöpfte und den Betrug in Kooperation mit anderen «Prüfstellen» überzeugend nachweisen konnte.

Rolando Collas vielschichtiger, sorgfältiger und im psychoanalytischen Sinn detektivischer Dokumentarfilm W. – Was von der Lüge bleibt stellt den Konflikt Ganzfried/Wilkomirski als entscheidende diskursive Bruchkante ins Epizentrum seiner feinfühligen Mnemographie. Es ist übrigens die einzige unversöhnliche Konfliktlinie in einem sonst dann doch eher um Verständnis und Perspektivenvielfalt bemühten Film, der hierbei aber nie krampfhaft harmonisierend wird.

Wilkomirski, nunmehr wieder Dössekker, der sich zum ersten Mal nach seiner Entlarvung der Öffentlichkeit zeigt (auch das ist das Verdienst Collas und seines Teams), spricht in einem rückblickenden Interview davon, dass ihn Ganzfried in seinem Rausch vor ein regelrechtes «Tribunal» zerren wollte. Ganzfried selbst kommt auch wiederholt zu Wort. Tatsächlich ist er immer noch voller Furor. Es handle sich um «Lüge, Erfindung und billigen Trost», um ein amoralisches, vermessenes, zivilisatorisches Projekt, Leid zu akkumulieren und auszuschmücken, und dafür habe er wenig Nachsicht übrig. Ist Dössekker eine Bereicherungs- und Anreicherungsmaschine, die das (Über-)Leben der anderen schamlos ausbeutet, um sich aus einem unstillbaren Geltungsdrang heraus mittels Selbstviktimisierung zu Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit zu verhelfen? Hat Wilkomirski wie ein Vampir das Leben der anderen auf- und ausgesaugt? Oder hat er die Erinnerung an etwas am Leben gehalten, das er zwar nicht selbst erlebt, aber als Echokammer des Jahrhunderts gleichsam am Leben gehalten und weitergegeben hat?  

Auf der einen Seite steht ein Mensch, der sich – in einem geradezu nietzscheanischen Akt – einen Ursprung gab, nach dem er sich gesehnt hatte. Man könnte traumatologisch-psychoanalytisch von einer retroaktiven Etablierung eines traumatischen Ursprungsereignisses schreiben. Auf der anderen Seite steht ein Schweizer Journalist, der sich dem Ethos der Aufklärung und der historischen Wahrheitssuche verpflichtet fühlt. Hat Wilkomirski, ohne es freilich zu wollen, Holocaustleugnern Argumentationsstoff geliefert? Wobei von Argumentation in diesen Kreisen selten die Rede sein kann. Was wäre, wenn Historiographie, das Schreiben von Geschichte, plötzlich ein perspektivisches Anything Goes würde? Ist der Holocaust nicht längst zur Travestie geworden? Ist die Welt nicht längst bevölkert von – wenn man so will – Nachahmungstätern in Wilkomirski’scher Nachfolgeschaft: von der Bloggerin Marie Sophie Hingst, die sich eine Verwandtschaft und Vorfahrenschaft aus Holocaustopfern erfand, über Dancing Auschwitz (2010), jenen Videoclip, den Jane Korman mit ihrem 89-jährigen Vater, dem Auschwitz-Überlebenden, drehte – in dem vierminütigen Clip ist zu sehen, wie Cohn mit Tochter und Enkelkindern zu Gloria Gaynors Disco-Hit I Will Survive auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Auschwitz tanzt, etwa unter dem ikonischen «Arbeit macht frei»-Schriftzug –, bis hin zu gegenwärtigen TikTok-, Instagram- oder YouTube-Clips, auf denen Jugendliche als Holocaustopfer posieren. Für viele handelt es sich um Beispiele einer abgrundtiefen Trivialisierung der Shoah. Für andere wiederum, die der Populärkultur und den Dynamiken der Erinnerung respektive Durcharbeitung aufgeschlossener gegenüberstehen, handelt es sich um Indizien einer sich trans-generationell weiter übertragenden, sich unaufhörlich neu verlebendigenden (Post-, Meta-, Prothesen-)Zeugenschaft.

Collas geduldiger, sorgfältig recherchierter und besonnen – manchmal vielleicht etwas zu langsam – erzählter Film adressiert diese Fragen, Aspekte und neuralgischen Punkte eher mikroskopisch als makroskopisch. Ausgangspunkt sind keine grossen, gesamtgesellschaftlichen Erinnerungs-(diskurs-)massive samt Erosionen. Ausgangspunkt und Gedächtnisstätte ist, ganz konkret, der zunehmend beeinträchtigte Körper Dössekkers. Er leidet an einer Nervenkrankheit, einem Zerfall der taktilen Nerven in den Extremitäten, welcher irgendwann die Empfindungsfähigkeit seines ganzen Körpers angreifen wird. Immer wieder ist Dössekker im Bad zu sehen. Es ist Winter, das Wasser des Beckens dampft, die Kamera filmt Dössekkers Körper halb über, halb unter Wasser, als multiple Persönlichkeit und Gestaltwandler. Es handelt sich um eine Therme bei Padua (Norditalien). Der Ort wird zu einer Leitmetapher des Films, das Wasser des Schwimmbeckens zu einem Rehabilitations- und Entwicklerbad für Erinnerungsbilder.

Während sich die Empfindungsfähigkeit Dössekkers gleichsam zurückzieht, greift der Film in mehreren Anläufen (und fünf Kapiteln) von diesem Körper qua Gedächtnisstätte aus, um entlang von Interviews, Archivmaterial sein Leben in verschiedene Leben zu zerlegen. In jedem Kapitel beginnt Dössekkers respektive Wilkomirskis Leben neu und anderswo: in Riga, in Krakau, in Biel; bei dem polnischen Bauernhof, in dem er sich angeblich versteckt hielt, wobei er Versatzstücke eines Schweizer Bauernhofs im Imaginären gleichsam nach Polen übersiedelte und dort neu zusammensetzte; in der Schweiz, bei seiner verlorenen Mutter, die in die psychiatrische Klinik eingeliefert wurde, bei der tobsüchtigen ersten Adoptivmutter oder den wohlhabenden Zürcher Pflegeeltern; bei dem Physik- und Klarinettestudium; bei der Veröffentlichung seiner Autobiographie oder– zuvor noch – bei seinen Rechercheunternehmungen (u. a. in Krakau), seinen (Wieder-)Begegnungen mit – teilweise echten, teilweise falschen – Zeitzeugen, seinem Kontakt zu der Geigerin Wanda Wilkomirska (deren Namen er übernahm); seiner Suche nach dem abwesenden Vater – wobei sich dann tatsächlich ein jüdischer Vater einbildete, in ihm seinen verlorenen Sohn gefunden zu haben (wir haben es also auch mit hochfaszinierenden Kontaktübertragungen und kollektiven Halluzinationen zu tun); bei der Entlarvung durch Ganzfried, Dössekkers Exkommunikation aus der Gemeinschaft der Holocaustüberlebenden und seinem Weiterleben, Weiterfesthalten daran, Jude zu sein, auch wenn er in den Interviews nun doch manchmal zugibt, Fehlerinnerungen aufgesessen zu sein, an die er jedoch selbst glaubte, die also nie intentional erfunden waren, um andere zu betrügen. Vielleicht hätte er die Autobiographie doch besser als Fiktion veröffentlichen sollen, meint er – W. oder D. (Das weiss man manchmal nicht so genau.)    

Die Erfahrungsschichten, Erinnerungsaspekte und Beweggründe, auf die der Film im Zuge seiner Investigationen im Mikroskopischen der Bruchstücke von Dössekkers multiplem Leben stösst, ergeben zusammengenommen ein sich ständig neu zusammensetzendes Kaleidoskop, das heisst Gedächtnis. Die spiralförmige Mnemographie des Films, die immer wieder zum Ausgangspunkt, das heisst zur Abano-Terme bei Padua in Norditalien und Wilkomirskis körperlichem Schwebezustand, zurückkehrt, folgt einer stark psychoanalytisch aufgeladenen Trauma-Auffassung, nach der das Trauma dasjenige ist, was unerinnerbar, nicht narrativierbar, nicht in eine symbolische Ordnung integrierbar bleibt, aber im Körpergedächtnis weiter insistiert und unerschöpflicher Motor der Produktion von Deckerinnerungen bleibt. Deckerinnerungen sind Erinnerungen, in denen das Unerinnerbare eine verstellte Form finden und in dieser Form insistieren darf, wie es bei Sigmund Freud 1899 in seinem Text Über Deckerinnerungen heisst. Deckerinnerungen werden nach den Regeln von Symbolbildung, Verdichtung und Verschiebung (mittels Kontiguitätsassoziation) produziert, um andere Signifikanzzentren zu verbergen. «Ein gewisses Erlebnis der Kinderzeit kommt zur Geltung im Gedächtnis, nicht etwa weil es selbst Gold ist, sondern weil es bei Gold gelegen ist.» (Freud) – «Es sieht so aus», schreibt Freud, «als wäre hier eine Kindheits-Erinnerungsspur zu einer späteren (Erweckungs-)Zeit ins Plastische und Visuelle rückübersetzt worden. Von einer Reproduktion aber des ursprünglichen Erlebnisses ist uns niemals etwas zum Bewusstsein gekommen.» Es geht somit um Vergangenheiten, die, wie die Urszene des elterlichen Koitus, nie als gegenwärtig erlebt, in ihrer Bedeutung nicht hin- und ausreichend erfasst werden konnten und in ihrer ursprünglichen Form auch nicht mehr repräsentierbar sind.

Erinnern wird somit zur Entwicklung und Kombination von Bildstücken, zu einer Montagearbeit. Spätestens hier wird deutlich, warum das Deckerinnern auch als Modell für die filmische Erfahrungslogik fungieren kann: Deckerinnerungen (screen memories/souvenirs-écran) sind ein Schirm (screen), der zugleich zeigt wie abschirmt. To screen means to screen.

Hervorhebenswert ist zudem, dass sich Deckerinnerungen als Produkt von Kräfteverhältnissen und Widerständen, Konflikten und Kompromissbildungen bilden. Als Falt- und Verdichtungsfigur synchronisieren sie mehrere Zeitmomente und destruieren somit die Koordinaten eines linearen Zeitlichkeitsmodells. Wiederholt formuliert Freud Zweifel, ob es jemals möglich ist, die primären Zeichen in diesem Palimpsest aus Erinnerungsschichten zu bergen. Wenn er sogar so weit geht und vermutet, dass wir Erinnerungen weniger aus der Kindheit haben, sondern nur an die Kindheit, dass Erinnerungen im Moment des Erinnerns allererst produziert werden, dann existieren hier zahlreiche Konvergenzen mit aktuellen neurobiologischen Einsichten in die situative Bahnung von Erinnerungen.

In W. – Was von der Lüge bleibt – zugegebenermassen verstehe ich die Wahl des Titels und die dadurch vorgenommene Akzentuierung nicht ganz – fällt der Begriff «Deckerinnerung» zwar nicht explizit, doch hat Colla in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Comiczeichner Thomas Ott eine ästhetisch überzeugende, düstere und flüchtige Form gefunden, um das Phänomen des Deckerinnerns ins Bild zu setzen. Mitunter fühlt man sich an Waltz with Bashir (2008) erinnert, auch wenn die Zeichentechnik (des Mnemographierens) eine ganz andere ist. Immer wieder sind Erinnerungsfetzen zu sehen, nicht einordenbare, flüchtige, sich ständig verändernde, nervös zuckende, sich wieder auflösende, versprengte und skizzenhafte (Deck-)Bilder für möglicherweise erfahrene Gewalt: ein zähnefletschender Hund in Grossaufnahme; die bedrohlichen Beine einer Frau aus Kinderperspektive; ein Bauernhof (in Polen, in der Schweiz?) mit Kellerloch; die ängstlichen, aufgerissenen Augen eines Kindes, das durch einen Spalt zwischen einer Bretterwand hindurch Gewalt beobachtet, die wir nie zu Gesicht bekommen. Im Stil einer Schabkartontechnik kratzen die raumzeitlich nicht genau verortbaren, ortlosen Erinnerungsfetzen also buchstäblich an unserem Wahrnehmungsbewusstsein, Erinnerungsfetzen, die in verschiedenen Kulissen wiederkehren und Stellvertreter für jene Bilder, Nachbilder, nachträglich gebildeten Bilder sind, die W. in die Blackbox des Unerinnerbaren investiert.

Collas ausgesprochen gelungener Film präsentiert uns D./W. als geschichtete Persönlichkeit. Hinter jeder Deckerinnerung kommt eine weitere Deckerinnerung, ein weiteres pro-thetisches (hinzugesetztes) Trauma zum Vorschein. Manchmal steigert sich der Film vielleicht etwas zu sehr hinein in W. als schillernden Einzelfall, meistens jedoch gelingt es dem Film, Distanz zu wahren und die Schichten so zum Sprechen zu bringen, dass sie uns viel über unsere (Geschichte der) Gegenwart erzählen. Der Film ist nicht an Wahrheitssuche oder Schuldfrage interessiert, sondern daran, einen Wahrheitssuchenden zu porträtieren. Doch halt: Wenn wir abschliessend noch einmal kurz annehmen, dass W./D. tatsächlich ein – mehr oder auch weniger brillant agierender – Lügner ist, dessen Selbstfälschungen, erfundenen Erinnerungen und Pseudologiken einem durchaus intendierten Planspiel folgen könnten, in dem es in erster Linie um Aufmerksamkeitsökonomie ging; und wenn wir annehmen, dass innerhalb dieser ineinander geschachtelten Deckbilder keine Wahrheit zu finden ist; macht uns der Film dann trotzdem das Angebot, eine wahre Alternative – und eben keine «alternative Wahrheit» (alternative truth) – zu finden?

Neben den etablierten, institutionalisierten Narrativen über die Vergangenheit existiert immer auch ein unkontrollierbarer stream of memories, der das Potenzial besitzt, Diskursverkrustungen (samt ihren Ausgrenzungsmechanismen) vor neue Herausforderungen zu stellen. «Wie lässt sich den Klischees [und der ‹falschen Pietät› mancher Erinnerungsbilder] ein wirkliches Bild entreissen?», fragt Gilles Deleuze in Das Zeit-Bild: Kino 2 (1985), und mit dem etwas unzeitgemäss wirkenden Wort «wirklich» meint er hier das Unterschlagene, die verloren gegangenen Teile, das Schockierende, das zum Denken bringt. Es besteht die Tendenz, Zeichen so lange in Wiederholungsstrukturen einzuspannen, bis sie sich in Austauschbarkeit, Ununterscheidbarkeit auflösen und dem anheimfallen, was Alexander Kluge in seiner Chronik der Gefühle als «fünfte Art des Vergessens» bezeichnet: «Die Informationen werden einander zu ähnlich. [...] Sie bilden ein weisses Rauschen.»

Dass es D./W. gelungen wäre, den Klischees ein «wirkliches Bild» zu entreissen, kann ich schwer behaupten. Diesbezüglich möchte ich Leon Stabinsky, dem Vorsitzenden einer Überlebensgruppe, folgen, der Dössekker vorwirft, in seinem körperlichen Habitus – mit seinem Vor- und Zurückwippen, als würde er beten, mit einem Schal, den er wie einen Tallit trägt – letztendlich Klischees und Stereotype jüdischer Verhaltensweisen akkumuliert zu haben. Die Wahrhaftigkeit von Dössekkers Lüge ist jedoch woanders zu finden: in einer verzweifelten Suche nach Herkunft, Zugehörigkeit und Community. In einem hartnäckigen Insistieren, mit Reinhart Koselleck könnte von einer Insistenz einer «Faktizität des Fiktiven» gesprochen werden. Es geht also immer auch um schmerzvolle Referenzen und keinen völlig arbiträren Entwurf der Vergangenheit. In einer zum Teil durchaus problematischen, aber sehr berührenden Weise, sich in eine Überlebensgemeinschaft und eine Familie einzuschreiben («Warum sollte ich kein Jude sein, wo ich mich mit Juden doch so gut verstehe?»), die eigene Identität also diskursiv und nicht biologisch (etwa über das Blut) zu begründen und – mehr oder eher weniger intendiert – seinerseits zu einem prothetischen Gedächtnis der Überlebenden zu werden. Nebst Ganzfrieds unerbittlicher Stimme kommen auch versöhnlichere Stimmen zu Wort. Die Holocaustüberlebende Karola Fliegner etwa hebt Wilkomirskis Begabung hervor, sehr ruhig und genau zuhören zu können. Tatsächlich erinnert Wilkomirskis hellhöriges Verhalten manchmal an das eines obsessiven, akribischen Aufnahmegeräts. Es zählt nicht zuletzt zu den grossen Vorzügen des Films, dass er dem Publikum Zeit gibt, Wilkomirskis Habitus genau zu studieren und sich auf dieser Grundlage ein Bild zu machen, anstatt ein Urteil zu bilden.

W. – Was von der Lüge bleibt | Film | Rolando Colla | CH 2020 | 111‘ | Zurich Film Festival 2020

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