Stellt dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin
Der Start ins neue Jahrzehnt steht für eine neue Ära des Filmkonsums. Online-Streaming bzw. Video-on-Demand (VOD) krempelt die traditionellen Formen der Verbreitung, Rezeption und Archivierung von Filmen um und stellt alle Beteilig¬ten vor die Frage: Wie können Filme jenseits des Mainstreams online sichtbar und vor dem Vergessen bewahrt bleiben?

Beitrag von Jacqueline Beck
«Die Algorithmen regeln das schon für dich, da hab ich keine Angst.» – Nun, es dürfte klar sein, dass die Aussage von Ivo Kummer, Leiter Sektion Film des Bundesamtes für Kultur, an einem Panel der Solothurner Filmtage zum Thema Streaming, mit Vorbehalt zu geniessen ist. Es geht um die Sichtbarkeit von Filmen im digitalen Zeitalter, Kummer sprach vom Service public, doch in der Branche ist auch die Rede von Krieg. Einem Krieg um Aufmerksamkeit, bei dem zumindest auf einer Seite sehr viel Geld im Spiel ist: Bei den amerikanischen Major Studios und globalen Playern im Online-Streaming-Markt, welche einen vermeintlichen Mainstream-Geschmack des Publikums bedienen und damit auch prägen.
«Ich habe keine Ahnung, was es auf Netflix alles gäbe, das mir Netflix nicht vorschlägt, weil es nicht in mein Sehverhalten passt», bemerkte Denise Bucher, Präsidentin des Verbands der Schweizerischen Filmjournalist*innen, am selbigen Panel. «Dieser Algorithmus macht irgendwas.» Und ganz grundsätzlich: Woher weiss ich, dass ein Film oder eine Serie online verfügbar ist, auf die ich schon lange warte? Muss ich mich nun bei x Anbietern registrieren und womöglich deren Abogebühren bezahlen, um mein individuelles Film- und Serienprogramm zusammenstellen zu können? Und wo stosse ich auf Gewagtes, Unerwartetes, Herausforderndes?
Unterschiedliche Modelle
In den letzten Jahren sind so viele Anbieter auf der Bildfläche erschienen, dass man leicht den Überblick verlieren kann: 24 weltweit verfügbare VOD-Plattformen listet Swiss Films in einem Merkblatt auf, nicht darin enthalten sind jüngste Launches bzw. Ankündigungen wie Apple TV+, Disney+, Peacock von NBC Universal oder HBO Max von Warner Media. Hinzu kommen unzählige länderübergreifend oder national verfügbare Angebote von Telecom-Firmen, Fernsehstationen, Filmverleihen, Kinos und Festivals.
Die einen versuchen, mit Abogebühren, der exklusiven Verfügbarkeit von Filmen/Serien oder einem kuratierten Angebot das Publikum für sich einzunehmen. Die anderen bemühen sich, die eigenen Filme auf möglichst viele Plattformen zu bringen, die Zuschauer*innen also dort zu erreichen, wo sie sich bereits aufhalten. Ein Beispiel dafür ist FILMO, eine von den Solothurner Filmtagen realisierte und von Engagement Migros finanzierte Initiative, die sich um die Digitalisierung von Schweizer Filmklassikern kümmert und diese derzeit auf den Plattformen Teleclub (Swisscom), cinefile, Sky, AppleTV/iTunes und UPC zugänglich macht.
Eine Mischform verfolgt die SRG, die im Herbst 2020 eine eigene Streaming-Plattform mit Eigen- und Co-Produktionen (Fiktion & Dokumentation) aus allen vier Landesteilen lancieren will. Angestrebt wird die Präsenz auf möglichst vielen internetfähigen Geräten und damit auch die Zusammenarbeit mit Anbietern wie Swisscom TV oder Apple TV, wie Projektleiter Pierre-Adrian Irlé in Solothurn erklärte: «Wir haben mehr zu gewinnen, wenn wir Partner sind, als wenn wir Konkurrenten sind.»
Kommerzielle vs. öffentliche Interessen
Für die SRG stehe im Vordergrund, das von ihr (mit-) finanzierte audiovisuelle Erbe vor dem Vergessen zu schützen, so Irlé. Die Nutzer*innen sollen inhaltsbasierte Empfehlungen bekommen, damit sie auch (ältere) Sendungen entdecken, die sie noch nicht kennen oder auf die sie im linearen Fernsehen nicht aufmerksam würden.
Die Eidgenössische Medienkommission EMEK fordert dazu in einem jüngst publizierten Positionspapier: «Die zugrundeliegenden Algorithmen sind [dabei] im öffentlichen Interesse zu entwickeln: Nicht eine kommerzielle Logik, sondern die Relevanz und Vielfalt der Inhalte müssen im Vordergrund stehen. Ein Service-public-Algorithmus muss eine Balance finden zwischen Inhalten, die die Nutzenden anziehen, und solchen, die einen Wert für die Gesellschaft haben.»
Die grossen kommerziellen Player im Markt haben demgegenüber ein unüberschaubares Angebot mit genauso wenig durchschaubaren Empfehlungssystemen. «Wir glauben, dass ihre Algorithmen dazu tendieren, das Angebot zu verflachen», sagt Giacomo Hug, Projektleiter der Locarno Shorts Weeks (siehe Interview). «Sie schlagen dir ständig eine neue Version desselben vor.» Für Anbieter wie Festivals oder Kinos, die ein besonderes Augenmerk auf die Kuration legen, besteht aber gerade darin die Chance, sich im Markt von anderen Anbietern abzuheben und klar zu profilieren.
Das Fördersystem anpassen
Die Lizenzierung von Filmen fürs Streaming, die Bereitstellung einer eigenen technischen Infrastruktur und die Optimierung von Such- und Empfehlungssystemen kosten jedoch Geld – viel Geld. Für Filmproduzenten und Verleiher wiederum ist es enorm aufwendig, den VOD-Vertrieb ihrer Filme zu bewirtschaften und dafür zu sorgen, dass diese überhaupt wahrgenommen werden. Swiss Films leistete in einem Pilotprojekt mit dem BAK von 2017–2019 Beiträge an die Untertitelung, das Online-Marketing und die Encodierung von Schweizer Filmen, um deren Online-Auswertung im Ausland zu stärken.
Der Filmproduzent Brian Newman schrieb in einem Artikel mit dem bezeichnenden Titel «Why Netflix and Amazon Algorithms Are Destroying the Movies»: «We need to focus more money on discovery now, and less on creation. [...] We need to come up with solutions to help curate better, help people discover and remember films, and help them to find a diversity of films.» Und das EMEK plädiert für eine «Innovationsförderung sowie die indirekte Förderung digitaler Infrastrukturen».
Die neue Kulturbotschaft des BAK hält lediglich fest, dass vom Bund geförderte Filme nach Abschluss der kommerziellen Auswertung der Bevölkerung weiter zur Verfügung stehen sollen. Man arbeite aber nicht – wie letztes Jahr von den Medien unter dem Begriff «Swissflix» kolportiert – auf eine eigene VOD-Plattform hin, stellte Ivo Kummer klar. Vielmehr wolle man das Gespräch mit verschiedenen Partnern suchen, um das filmische Kulturerbe möglichst breit zugänglich zu halten.
Die Reihen schliessen
Wie dies geschehen soll, das treibt auch die mit Langzeit-Archivierung betrauten Bibliotheken um. Der Arbeitskreis Filmbibliotheken D-A-CH widmete seine letztjährige Herbsttagung dem Thema und lud verschiedene Streaming-Anbieter ein, ihr Portfolio vorzustellen. Die Herausforderung: Bibliotheken wollen den Besucher*innen ein umfassendes Angebot bieten; gerade die Rechteinhaber populärer Serien und Blockbuster haben aber wenig Interesse daran, dass ihre Kassenschlager via Bibliotheken frei online zugänglich sind. Gleichzeitig besteht das Risiko, dass ein Film, der wenig nachgefragt wird, aus dem Katalog eines VOD-Partners gestrichen wird und somit für die Nachwelt verloren gehen könnte. VOD unterliegt zudem anderen rechtlichen Grundlagen als DVD. Die Lizenzverhandlungen müssen für jeden Film einzeln geführt werden und sind mit hohen Kosten verbunden; auch die urheberrechtliche Abgeltung ist (noch) anders geregelt. Es stellt sich die Frage nach Preismodellen für Bibliotheken und deren Umgang mit Big Data (siehe Beitrag von Anna Bohn).
Auf Seite der Gedächtnis- und Bildungsinstitutionen wird der Ruf nach Allianzen und Regulierungen laut – aber nicht nur dort. «Wir haben uns über die letzten 100 Jahre ein Kartenhaus aufgebaut, das nur dank klarer Spielregeln steht», sagt Edna Epelbaum, Kinobetreiberin und Präsidentin des Schweizerischen Kinoverbands (siehe Interview). «Jetzt sind wir in einer Zeit angekommen, in der alles sehr schnell geht.»
Es herrscht der Eindruck vor, dass jeder losstürmt, um einen Teil des Kuchens für sich zu ergattern – Erschütterungen und Verluste in Kauf nehmend. Ein bisschen mehr Absprache und Umsicht wäre von Vorteil, damit das Kartenhaus nicht zusammenstürzt. Denn bei Spielregeln ist es wie bei Algorithmen: Sie werden von Menschenhand geschrieben.
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«Wer zu Hause bleibt, wenn der Kampf beginnt, und lässt andere kämpfen für seine Sache, der muss sich vorsehen: Denn wer den Kampf nicht geteilt hat, der wird teilen die Niederlage. Nicht einmal den Kampf vermeidet, wer den Kampf vermeiden will: Denn es wird kämpfen für die Sache des Feinds, wer für seine eigene Sache nicht gekämpft hat.» Bertold Brecht
Text: Jacqueline Beck