Wildland

[…] Wie in jeder Missbrauchsbeziehung sind die Grenzen zwischen Liebe und Gewalt fliessend. Ein Umstand, dem Jeanette Nordahls Debütfilm immer wieder mit eindrucksvoller Sensibilität begegnet.

[…] Aus dem Versuch, Mitgefühl und Zärtlichkeit in die familiären Gewaltstrukturen hineinzutragen, spricht allein der Fatalismus, der Idas Leben unaufhörlich auf einen schon oft betretenen Weg führt.

Text: Karsten Munt

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Text: Karsten Munt | Reading: Nils Jensen | Editing: Annatina Stalder

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Ein Auto liegt auf dem Dach. Die tödliche Kraft des Unfalls, der bereits in der Vergangenheit liegt, ist noch kurz sichtbar: Rauch steigt aus dem Motorblock auf, die Reifen drehen sich langsam und hilflos in der Luft. Dann sind wir schon auf der Intensivstation. Ida (Sandra Guldberg Kampp) sieht die letzten Atemzüge, die die Maschinen für ihre Mutter machen, bevor ein Alarmsignal ertönt und eine Krankenschwester „Herzstillstand“ ruft. Es sind die letzten Worte, die die 17-Jährige im Krankenhaus hört. Dann stirbt ihre Mutter und sie wird einem Sozialarbeiter übergeben.

In nicht einmal zwei Minuten wickelt Wildland eine ganze Existenz ab: Autounfall, Intensivstation, Jugendamt. Ida wird aus ihrem Leben geworfen und kommt erst am Frühstückstisch ihrer Tante Bodil (Sidse Babett Knudsen) wieder zu sich. Die Frau ihres Cousins legt ihr Baby in Idas Arme, ihr Cousin Jonas (Joachim Fjelstrup) spricht sein Beileid aus und dessen Brüder trudeln nach und nach ein, um Bodil, ihre Mutter, zu küssen, einen Kaffee zu trinken und auf Nachdruck der Mutter ihr Beileid auszusprechen. Sie ist das Familienoberhaupt an diesem Tisch. Die Matriarchin verfügt über die Liebe und den Zusammenhalt im Haus. Ein Zusammenhalt, der zwar auf Ida, aber nicht die Partnerinnen der Söhne ausgeweitet wird. Jonas’ Frau Marie und das gemeinsame Baby leben wie Phantome in diesem Haus, das die drei Brüder täglich verlassen, um als Schuldeneintreiber das Geld für die Familie zu verdienen. Ein Ritual, das für Ida bald so selbstverständlich wird wie das gemeinsame Frühstück. Der Job sieht harmlos genug aus. Jonas bleibt als Chef im Auto, die jüngeren Brüder David und Mads dringen mit Gewalt in ein fremdes Haus ein. Nur für eine kurze Sekunde ist der Schuldner, ein verängstigter Familienvater, zu sehen. Dann zerren die beiden ihn zurück ins Haus. Was dort passiert, ist nicht zu sehen. Die Gewalt ist eine aus dem Kader gedrängte Gegenwart, so wie der schicksalhafte Autounfall eine ins Bild gestellte Vergangenheit ist. Doch nicht allein das Verbrechen bleibt verhüllt, auch Idas Reaktion ist nie zu sehen. Ihr Gesicht bleibt leer. Wann immer möglich, verharrt der Film in dieser Opazität. Den unmittelbaren Affekt lässt Wildland selten zu. Idas Verhältnis zu ihrer neuen Familie wird schnell zu einer tiefen, nicht zu brechenden und nach aussen hin mit aller Kraft von ihr verteidigten Abhängigkeit. Wie in jeder Missbrauchsbeziehung sind die Grenzen zwischen Liebe und Gewalt fliessend. Ein Umstand, dem Jeanette Nordahls Debütfilm immer wieder mit eindrucksvoller Sensibilität begegnet. Die gleiche Hand, mit der Bodil einem ihrer Söhne eine saftige Ohrfeige aufdrückt, streicht kurz darauf zärtlich über sein Gesicht. Die gleiche Hand, mit der Jonas seinem Bruder am Frühstückstisch durch die Haare fährt, wird ihm im Auto mehrere demütigende Maulschellen verpassen.

Der dramaturgische Fluchtpunkt des Dramas ist hingegen schnell etabliert und absehbar: Noch bevor der kriminelle Lebensstil seinen Tribut fordert, sind Ida alle Wege versperrt. Die neue Familie ist ihr Halt und ihre Fessel. Es gibt keine gemeinsam im örtlichen Club verbrachte Partynacht ohne den vorigen „Arbeitstag“. Doch, und hier wächst Wildland über die eng abgesteckte Dramaturgie hinaus, Ida nimmt an beiden mit der gleichen Selbstverständlichkeit teil. Sie tanzt mit den Cousins, die in diesem Moment Brüder sind, trinkt mit ihnen, pinkelt mit ihnen ins Kornfeld und lockt mit ihnen die Tochter eines Schuldners in ihr Auto. Der Moment, in dem das angelockte Mädchen in den Wagen steigt, spielt nicht mit dem Komplizin/Zeugin-Kontrast, auf den der Film ansonsten unweigerlich zusteuert. Hier, auf der Rückbank von Jonas’ Wagen, ist Ida unverkennbar Komplizin. Sie unterläuft die bedrohliche Atmosphäre, tauscht sich mit dem Mädchen aus, erzählt aus ihrer Schulzeit, macht das Verbrechen so angenehm wie möglich. Aus dem Versuch, Mitgefühl und Zärtlichkeit in die familiären Gewaltstrukturen hineinzutragen, spricht allein der Fatalismus, der Idas Leben unaufhörlich auf einen schon oft betretenen Weg führt. Der so schwer lesbare Ausdruck auf ihrem Gesicht wird sukzessive zum Ausdruck einer ihr noch nicht bewussten Hilflosigkeit. Weder die staatlichen Strukturen noch der eigene, aufrichtige Wille, das „Richtige“ zu tun, können sich dem tragischen Verlauf ihres Lebens entgegenstellen. Idas Jugend liegt, wie die Bilder von Gewalt und Trauma, bereits in der Vergangenheit.

 

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Wildland – Kød & Blod | Film | Jeannette Nordahl | DK 2020 | 89‘

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First published: November 03, 2020