Wie die Anderen

[...] er zeigt eine neue, sehr realistische Sicht auf den psychiatrischen Beruf von der Perspektive des alltäglichen Arbeitsverlaufes der Angestellten.

[...] Drehen ohne Interviews, ohne Fragen, ohne Kommentare, ohne irgendwelche subjektive, filmische Perspektive. Das ist ein enormer Schritt zurück zum Mythos der dokumentarischen Neutralität – war diese nicht als tot erklärt?

Kino Xenix in Zürich und Kino Rex in Bern widmen sich mit einer Filmreihe zur Psychiatrie im Kino. Es ist fast ein Muss, Wie die Anderen von Constantin Wulff – der an den Solothurner Filmtagen seine Premiere feierte – in diesem Kontext zu schauen, weil der Film im Zentrum von mehreren, gegenwärtig laufenden Debatten steht. Wulffs Werk wurde ausschliesslich innerhalb einer psychiatrischen Klinik für Jugendliche in Österreich gedreht und hat mehrere Aspekte, die lobend zu erwähnen sind: er zeigt eine neue, sehr realistische Sicht auf den psychiatrischen Beruf von der Perspektive des alltäglichen Arbeitsverlaufes der Angestellten. Es ist eine wichtige Anklage an die politische Nachlässigkeit gegenüber dem psychiatrischen Bereich, wo die Klinikmitarbeitenden oft über ihre Kräfte hinauswachsen und schlecht entlöhnt werden. So ist es auch eine Infragestellung der gesellschaftlichen Relevanz der Psychiatrie heute. Der Filmemacher hat es geschafft, in diesen schwierigen, unvorhersehbaren Alltagssituationen ein ausserordentliches Vertrauen zu bekommen, um seltene und wertvolle Bilder zu liefern.

Aus meiner Sicht ist der Film aber auch aus einem anderen Grund erstaunlich: Es fehlt auf der ganzen Linie an filmischen Ideen und einer kritischen Vertiefung. Das scheint das Resultat einer bewussten Entscheidung zu sein: Drehen ohne Interviews, ohne Fragen, ohne Kommentare, ohne irgendwelche subjektive, filmische Perspektive. Das ist ein enormer Schritt zurück zum Mythos der dokumentarischen Neutralität – war diese nicht als tot erklärt? So empfinden wir uns als Zuschauer den Psychiatern gegenüber frustriert und ausgeliefert, da sie nur ihrer eigenen Erfahrung zu vertrauen scheinen und auf den ausschliesslich wörtlichen Dialog (dazu sehr paternalistisch) setzen. Es ist eine gute Neuigkeit, dass eine psychiatrische Klinik heute nicht mehr von dogmatischen Schulen geprägt ist. Doch sehen diese guten Kerle nicht ein bisschen verloren aus? Vor allem und auf jeden Fall sind die Filmliebhaber verloren, die durch eine filmisch, langweilige Wüste fahren müssen, um das gleichermassen trockene Ende des Filmes zu sehen.

Wenn es wichtig ist, dass der Film eine soziopolitische Debatte über den Zustand der heutigen Psychiatrie auslöst, finde ich es eben so wichtig, dass sich erneut ein Aufschrei gegen den Mythos der dokumentarischen, “klinischen” Neutralität manifestiert. Constantin Wulff sollte zu den Werken von Michel Foucault zurückkehren, um die Verbindung zwischen der positivistischen, gewalttätigen Unterschätzung der psychiatrischen Störungen und dem Mythos der Neutralität der sogenannten “wissenschaftlichen” Beobachtungen zu studieren. Die Anthropologie, die Soziologie, die Psychologie und die anderen geistlichen Disziplinen zeigen heute, dass sie diese Lektion gut gelernt haben (mindestens ist diese Problematik in den Universitäten bewusst analysiert worden). Sollte die filmische Disziplin nicht endlich und definitiv an der Reihe sein?

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Wie die Anderen | Film | Constantin Wulff | AT 2015 | 95'

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First published: May 03, 2016