Vom dokumentarischen Beziehungsdilemma | ZDOK 2025

Reale Menschen filmen: Was wird praktiziert und was sollte gelten? Die Zürcher Dokumentarfilmtagung (ZDOK) unter dem Thema «It’s a Match – Beziehungsarbeit im Dokumentarfilm» bot eindrückliche Einblicke in ethische Dilemmas, neuere Herangehensweisen und die Perspektive von Gefilmten: dazu die drei wichtigsten Thesen.

Vom dokumentarischen Beziehungsdilemma

Eine Aktivistin in einem autoritären Staat, sie könnte Marija heissen, wird plötzlich laut: «Ihr redet Bullshit, faselt von Albträumen, von kreativen Blockaden. Ihr sitzt dort in Europa und sorgt euch um die Finanzierung – aber niemand kümmert sich um meine Sicherheit. So gibt es keinen Film.» Darauf die Regisseurin Selva im Exil ganz bleich: «Ich möchte erbrechen.» Sie sollte in absehbarer Zeit ihren Film über Marija schneiden und beenden, ist aber komplett blockiert. Was wie ein spannender Film-im-Film-Plot klingt, ist so ziemlich der Horror aller Dokumentarfilmenden: Die Hauptfigur will aussteigen, und alles steht auf der Kippe.

Kreativität, Realität, Zeitdruck und Existenzängste sind ineinander verzahnt

Die oben geschilderte Szene war Teil eines Experiments am ZDOK im März 2025 in Zürich: Serra Ciliv bietet Dokumentarfilmenden therapeutische und solidarische Prozessbegleitung an und hat mit freiwilligen ZDOK-Tagungsteilnehmenden ein fiktives Szenario nachgestellt, wie sie es in ihrem Alltag oft antrifft: Kreativität, Realität, Zeitdruck und Existenzängste sind ineinander verzahnt, blockieren und gefährden ein Projekt.

These I – Beziehung ist Arbeit

Das Experiment hat aber vor allem deutlich gemacht: Die Beziehungsarbeit zwischen Regie und Subjekt ist im Dokumentarfilm Dreh- und Angelpunkt. Selvas und Marijas Beziehung ist fragil, sie ist geprägt von gegenseitigen Abhängigkeiten, aber auch von einer Hierarchie. Sie ist kompliziert, sie wird bei zunehmender Projektdauer privater. Sie ist von äusseren, unkontrollierbaren Faktoren beeinträchtigt. Und: Sie gehört gepflegt – und einbudgetiert.

Rand Beiruty (Shadows, 2024) und Heidi Specogna (Cahier africain, 2016) wiederum berichteten in ihren Beiträgen, wie die Beteiligten bei ihnen erst nach mehreren Jahren genug Vertrauen gefasst hatten, um den einen tragischen Aspekt ihrer Geschichte zu erzählen. Viele beschreiben jahrelange intensive Prozesse, sprechen vom filmischen Suchen und Warten, von viel unbezahlter (Care-)Arbeit. Am Podium «Konfliktbereiche der Regiearbeit» gab es mehrere Umschreibungen der Beziehung: Annett Ilijew erläuterte, wie ihre achtjährige Filmarbeit eine Freundschaft mit dem porträtierten Fotografen Michael Ruetz entstehen liess und damit dem Film Facing Time mehr Tiefe und dem Porträtierten mehr Authentizität verschaffte. Das erforderte unzählige Treffen und Gespräche, mit denen sie den Austausch bewusst nährte. Regisseur und Ethnologe Mehdi Sahebi (Prisoners of Fate, 2023, Zürcher Filmpreis 2024) sprach von «Freundschaften mit Zweck und Ziel» während der Filmzeit.

SRF-Journalistin und Filmemacherin Eveline Falk (Die evangelikale Welt der Läderachs, 2023, SRF) geht zeitbedingt und mit einem anderen Fokus vor: Sie interviewt Kritiker:innen oder Held:innen zu einem spezifischen Thema oder Vorfall. Nach der Ausstrahlung melde sie sich persönlich und verweise, wenn nötig, an Spezialist:innen, gehe aber schnell ins nächste Projekt.

«Duty of Care» und «Aftercare»

Die Forschungsergebnisse der Britin Emily Coleman (King’s College London) zu dokumentarischen Beziehungen, vor allem im Bereich Rundfunk, zeigen dasselbe: Wer die Protagonist:innen nicht auflaufen lassen will, leistet viel Wissensvermittlung, Vertrauensaufbau, und je nach Thema rutscht man in eine therapeutische Rolle. Coleman spricht treffend von der «Duty of Care» (etwa: Sorgepflicht), die selbstverständlich sein sollte, und von «Aftercare», damit der elementare Kontakt nicht abrupt nach dem Filmen endet. Es zeigt sich das ewig prekäre Paradox: Eine ethisch bewusste, einfühlsame und freundschaftliche Begegnung braucht viel Zeit. Somit birgt «Duty of Care» die Gefahr der Selbstausbeutung für Projektleitende.

These II – The People We Watch: Je akkurater porträtiert, desto zufriedener

The People We Watch, so der Titel von Emily Colemans Buch, dient als zweite These: Je besser die Bedürfnisse der Marijas vor den Kameras bekannt sind, umso einfacher, ethisch korrekter und einvernehmlicher sollte sich der ganze Prozess gestalten.

Qualitative und aufschlussreiche Studien zur Perspektive der Beteiligten hat neben Coleman auch Patricia Aufderheide, forschende Professorin der American University in Washington, mit dem Independent Television Service (ITVS) durchgeführt. Die Aussagen von 195 Beteiligten bestätigen, dass 89% erneut im selben Dokumentarfilm mitmachen würden. 43% fanden sich «extrem» akkurat porträtiert, 38% «sehr» akkurat, 3% «gar nicht». Leute wollen sich also verstanden und wertgeschätzt fühlen – und korrekt wiedergegeben, wenn sie etwas von sich preisgeben. Vier Fünftel der Befragten fühlten sich vorab gut informiert über das Projekt, dennoch wünschten sich alle (noch) bessere Kommunikation. Und das Thema Geld ist immer umstritten: Ein Drittel der US-Dokumentarfilmenden hat den Gefilmten eine Kompensation bezahlt – was etwa im Journalismus verpönt ist –, und fast die Hälfte hat keine monetäre Hilfe geleistet.

Der Dokumentarfilmer und Leiter BA Film Practice an der University of the Arts London, David Alamouti, brachte schliesslich transnationale und digitale Faktoren ins Spiel, die immer wichtiger werden bei der Frage, wie man die Autonomie der Porträtierten wahrt, wie man ihnen ehrlich und wohlwollend begegnet und ihre Integrität schützen kann – etwa vor einem Regime oder einer digitalen Hetzjagd.

These III – Kollaborative Beziehungen, Co-Kreation und Partizipation als Weg in die Zukunft

Wie steht es also um die Mitsprachemöglichkeit der Protagonist:innen? In der US-Studie gaben 60% an, den Rough-Cut gesehen zu haben. Den Entwurf zeigen wird auch am ZDOK wichtiger und wirksamer eingeschätzt, als vor Drehbeginn eine Einverständniserklärung zu unterschreiben. So aber würde sich Marija wertgeschätzt fühlen, könnte Zweifel und Ängste einbringen, und Selva wiederum wüsste, dass ihre Protagonistin nicht vor vollendete Tatsachen (und Interpretationen) gestellt würde.

Warum will ich diesen Film machen? 

Je besser sich Selva als Regisseurin bewusst ist, warum sie Marijas Geschichte porträtieren will oder warum nicht, wer von den Erzählungen wie profitiert und was der dokumentarische Wert des Films ist, desto einfacher sollte sich in der Regel die Beziehungsarbeit gestalten. Reflexion ist bei Patricia Aufderheide die erste Phase eines Projektes überhaupt. Auch Regisseurin Rand Beiruty setzt bei den Fragen an: Warum will ich diesen Film machen? Welche Auswirkungen wird das Filmen auf die Protagonist:innen haben? Ihr Langspieldebüt Tell Them About Us (2024) begleitet junge Teenager:innen unterschiedlicher Herkunft in der deutschen Provinz. Beiruty hat mit ihnen über mehrere Jahre Theater- und Schreibworkshops abgehalten: Die Protagonist:innen gestalteten so aktiv Inhalte mit. So ist auch die Regisseurin immer wieder mal im Bild zu sehen. Ein Dokumentarfilm, der nicht verheimlicht, dass am Realen gearbeitet wurde.

Auch in Lisa Gerigs preisgekröntem Film Die Anhörung (2023) wird die Mitsprache sichtbar: Im Film richtet sie mit den Protagonist:innen die Zimmer für die Asylanhörungen realitätsgetreu ein. Am ZDOK erläutern sowohl Gerig als auch die Protagonistin Living Smile Vidya, dass viele Vorgespräche, von den Protagonist:innen gewünschte Abmachungen und auch inhaltliche Mitsprache den Film zu dem haben werden lassen, was er ist: eine mutige Zusammenarbeit von Asylsuchenden und Asylgewährenden, eine differenzierte Systemanalyse. Im Film werden gegen Ende die Rollen vertauscht: eine Idee, die Gerig mit den Protagonist:innen entwickelt hat und die diese bis heute an Podien und Premieren mittragen. Es zeigt sich: Prozesseinblicke und Einbezug der Sichtweise und Bedürfnisse der Protagonist:innen tun dem Dokumentarfilm gut. Sie machen ihn zu einem Genre, das Zweifel, Ambivalenzen und Imperfektion in zwischenmenschlichen Beziehungen – eben auch derjenigen zwischen Filmenden und Gefilmten – zulässt.

*

Zur Transparenz: Die Autorin des Artikels, Katja Zellweger, widmet sich denselben Fragen zum ethischen Umgang mit biografischem Material in den darstellenden Künsten. Gemeinsam mit dem Schauspieler und Regisseur Dennis Schwabenland hat sie Biografie.art ins Leben gerufen, gefördert vom Migros-Kulturprozent m2act. Die Website bietet ausgehend von 10 Interviews mit Regie, Projektbeteiligten und externen Expert:innen aus Investigativjournalismus, Traumatherapie und Sozialanthropologie wichtige Fragen und formuliert Credos für Projektleitende und -teams. Die Fragen – aufgegliedert nach Projektphasen – zielen darauf ab, das Vorgehen, die Intentionen zu prüfen sowie Leitlinien zu markieren, um einen für alle angenehmen und einvernehmlichen Prozess zu schaffen. Workshops, Nachgespräche und andere Formate werden angeboten. Ab Sommer bieten sie ein Double-Mentorat für Dokumentarfilmende an und entwickeln das Projekt auch in diese Richtung weiter.

Info

Zürcher Dokumentarfilmtagung (ZDOK) | Museum für Gestaltung Zürich, Kino Toni an der ZHdK Zürich | 19-21/3/2025 | Thema 2025: It’s a Match – Beziehungsarbeit im Dokumentarfilm
Die Zürcher Dokumentarfilmtagung wird biennal veranstaltet vom Filminstitut der Zürcher Hochschule der Künste. Sämtliche Inputs und Gespräche des ZDOK sollten ab Sommer 2025 auf der Website frei zugänglich sein.

More Info

First published: April 11, 2025