Under the Tree

[…] Dieses Kino ist nicht nur eines der absoluten Kontrolle – das gab es in den unterschiedlichsten Formen immer –, es ist ein Kino der kontrollierten Detonationen; ein Kino der Blossstellung, der Scham, der Strafe.

[…] Lange Zeit funktioniert die strikte Trennung der Konflikte erstaunlich gut – gerade weil, sie (Porno und Pistole) einander gegenseitig noch verschärfen müssen, so viel wissen wir ja bereits. Es ist reine Geometrie: Der Porno führt zum Baum, der Baum zur Pistole.

[…] Die Entladung der Spannungen am Ende des Films steht nämlich bei Sigurðsson (ähnlich wie bei Östlund) dann nicht im Zeichen des unkontrollierten Exzesses, sondern im Zeichen der Sanktionierung, im Zeichen der Strafe.

Text: Lukas Stern

Gerade erst hat Ruben Östlund mit seiner Gesellschaftssatire The Square über einen Kunstkurator, der sich durch einen blöden Fehler das Leben ziemlich schwer macht, die Goldene Palme in Cannes abgeräumt. Warum? Das ist schwer zu sagen, denn sein Film war unter allen anderen im diesjährigen Wettbewerb wohl nicht nur der unsympathischste, sondern auch der besserwisserischste. Inszenatorisch ist er aber brillant. Immerhin gelang es ihm, die zynische und letztlich ziemlich billige Provokationsstruktur, auf die er aufbaut, so weit zu kaschieren, dass er es sogar bis zum wichtigsten Filmpreis der Erde schaffte. Es geht dort um den Status der Moral – und es geht um Grenzverstösse, Tabubrüche, schwarze Löcher in der ethischen Architektur unserer Gesellschaften. Östlund weiss, wo die Grenzen verlaufen und die Löcher liegen – dass das niemandem in der Jury sauer aufstiess, ist eigentlich ein Wunder. Vielleicht war es aber gar nicht Östlund, der da gewann, vielleicht war er am Ende doch nur der beste Stellvertreter für ein ganz bestimmtes Kino, das offensichtlich gerade Konjunktur hat, das vielleicht sogar gebraucht wird, weil es in einem gewissen Sinne womöglich zur Beruhigung einlädt. Dieses Kino ist nicht nur eines der absoluten Kontrolle – das gab es in den unterschiedlichsten Formen immer –, es ist ein Kino der kontrollierten Detonationen; ein Kino der Blossstellung, der Scham, der Strafe.

Mit einem äusserst blossstellenden, beschämenden und letztlich unter Strafe gestellten Moment beginnt auch Hafsteinn Gunnar Sigurðssons Film Under the Tree: Atli sieht sich auf dem Laptop einen Porno an und wird dabei von seiner Freundin erwischt. Ob er das selbst sei, der da gerade auf dem Bildschirm herumstöhnt, fragt sie mit einer Mischung aus Irritation und Ekel. Atli streitet ab und versucht zu beschwichtigen, während das selbstgedrehte Material im Hintergrund weiterläuft – unabsichtlich, denn das Bild verschob sich mit dem Zuklappen des Laptops auf den grösseren Bildschirm dahinter: die Scham multipliziert sich! Auf diese Szene folgen Schüsse: Männer üben das Zielen auf einem Schiessstand. Die Eskalationskurve von Under the Tree wäre damit also erst einmal skizziert. Porno und Pistole. Sigurðsson weiss natürlich, dass er mit diesen ersten Filmminuten die komplette Baustruktur seines Films offenlegt. Die Eskalation ist vorgezeichnet.

Wie zwei aufeinander zurasende Züge teilt Sigurðsson das Geschehen seines Films auf. Da ist Atli, der von seiner Freundin rausgeschmissen wird, und da sind Atlis Eltern, die in einen immer erbitterteren Nachbarschaftskrieg mit den Bewohnern der anderen Partei eines Zweifamilienhauses in Reykjavik hineingezogen werden. Eigentlich ist das Problem marginal. Es geht um den hochgewachsenen Baum, der im Garten steht und einen nicht unerheblichen Schatten auf das Grundstück der Nachbarn wirft. Eine Einstellung relativ zu Beginn zeigt Eybjorg, die fitness- und wellnessabhängige Nachbarin, auf einer Terrassenliege – aus der Vogelperspektive. Eybjorg könnte die Liege auch aus dem Schatten herausschieben, aber es geht eben ums Prinzip. Der Krieg um den Baum spitzt sich zu: Autoreifen werden aufgeschlitzt, Haustiere verschwinden. Atli, der vorübergehend wieder bei seinen Eltern wohnt, hat allerdings andere Sorgen.

Lange Zeit funktioniert die strikte Trennung der Konflikte erstaunlich gut – gerade weil, sie (Porno und Pistole) einander gegenseitig noch verschärfen müssen, so viel wissen wir ja bereits. Es ist reine Geometrie: Der Porno führt zum Baum, der Baum zur Pistole. Sigurðsson inszeniert von oben. Die Konstruktion ist planvoll, wie die eines Ikea-Möbelstücks (Atli picknickt einmal verbotenerweise mit seiner Tochter auf einer Wiese vor Ikea, das ist natürlich kein Zufall). Überhaupt ist die Reihenhauswelt von Reykjavik bis unter den Rand mit dem Nicht-Ambiente einer Ikea-Einrichtung geradezu vollgepumpt. Diese Optik kühlt herunter, was sich an Wut, Hass und Frustration innerhalb des Personals aufstaut – und das ist gut so. Denn es entschärft auch Sigurðssons missgünstigen, ja, verachtenden Blick auf seine Figuren, die allesamt unfähig sind (und bleiben), auch nur mit winzigen Konflikten hantieren zu können.

Dass es sich Under the Tree angesichts seines Konstruktionsprinzips äusserst leicht macht, ist an sich kein Problem – schliesslich wirbt auch Ikea mit Unkompliziertheit. Heikel wird es allerdings an dem Punkt, an dem sich das Kühle wieder aufheizt, an dem es zur Kollision, zur Detonation kommt, an dem sich Under the Tree mit The Square vergleichbar macht. Die Entladung der Spannungen am Ende des Films steht nämlich bei Sigurðsson (ähnlich wie bei Östlund) dann nicht im Zeichen des unkontrollierten Exzesses, sondern im Zeichen der Sanktionierung, im Zeichen der Strafe. Das Personal bekommt die Quittung serviert für das, was es über die Dauer des Films zu leisten nicht im Stande war. Das ist nicht nur eine gehässige Wendung, es ist, problematischer noch, ein Umschwenken ins Moralisieren. Und dabei geht es nicht nur darum, einer Gesellschaft vor Augen führen zu wollen, wie windig und labil ihre Ikea-Welt doch ist, sondern darum, am Ende mit fast schon gnadenvoller Geste ein System funktionierender Bestrafungsmechanismen zu reinstallieren. Letztlich nämlich entfaltet sich der Schluss dieses Films ganz und gar nicht in der eskalativen Dynamik, die Sigurðsson vermutlich vorsah, sondern hat, im Gegenteil, eher den Effekt der Beruhigung. Die westliche Reihenhausgesellschaft mit ihren Gartenzäunen und Heckenkriegen, ihren Egoismen und Feigheiten – sie bekommt, was sie verdient. Es gibt noch Hoffnung: die Hoffnung, dass sich ein gesellschaftliches System, so falsch es auch sein mag, im Notfall schon selbst sanktioniert. Das ist zu einfach.

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Under the Tree | Film | Hafsteinn Gunnar Sigurðsson | ISL-PL-DK-DE 2017 | 89’ | Zurich Film Festival 2017

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First published: October 06, 2017