Transnistra

[…] Teenager, wie es sie überall auf der Welt gibt, könnte man denken. Doch bei dieser Gruppe mischt sich in das Geplänkel der jungen Erwachsenen eine dystopische und Unheil verkündende Melancholie.

[…] Anna Eborn gelingt es, die Musik der Jugendlichen geschickt in ihren Film und mit der Erzählung selbst zu verweben. Mal unterstreichen die Lieder den unwirklichen Stillstand in den Leben, mal spiegeln sie die Unruhe und den Unmut der Gruppe wider.

[…] In ihrer Realität, die uns der Film so eindrücklich nahebringt, scheint das Einzige, was zählt, das «Jetzt» zu sein, indem sie sich gemeinsam wiederfinden und sich Halt geben.

Von dem Leben in einem Land, das es nicht gibt

«Transnistrien» klingt wie ausgedacht. In Wahrheit aber ist es ein Land, das auf unseren Weltkarten nicht eingezeichnet ist. Unwirklich scheinen auch so manche Szenen des Dokumentarfilms Transnistra der schwedischen Regisseurin Anna Eborn. Sie begibt sich in die Teilregion, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion von der Republik Moldawien abspaltete, aber international nicht anerkannt blieb. Über mehrere Monate begleitet sie einer Gruppe Jugendlicher, die wie aus der Zeit gefallen scheinen. Der Film setzt mit sanft-melancholischen Naturbildern des Grenzflusses Dnister ein. Die Jugendlichen verbringen ihre Freizeit am Ufer, gehen baden, rauchen und messen ihre Kräfte. Ein Mädchen telefoniert mit ihrem Liebsten, sie fordert Liebesbeweise ein. Im Schnitt wechseln wir zwischen den zwei 16-jährigen Jungs Tolya und Sascha hin und her. Tanya, das einzige Mädchen unter ihnen, bildet das Zentrum der Gruppe, um sie drehen sich die meisten Gespräche der Jungen und schliesslich auch der Film. Abwechselnd machen die Jungs ihr Avancen, doch Tanya scheint sich nicht festlegen zu wollen. Teenager, wie es sie überall auf der Welt gibt, könnte man denken. Doch bei dieser Gruppe mischt sich in das Geplänkel der jungen Erwachsenen eine dystopische und Unheil verkündende Melancholie.

Arbeit scheint es keine zu geben im Land. Wenn sich die Gruppe nicht am Fluss trifft, dann beschäftigt sie sich damit, auf alte, verfallene Industrie- und Bauruinen aus Sowjet-Zeiten zu klettern. Mit ihren rohen Betonwänden, offenen Stahlträgern und fensterlosen Öffnungen bilden sie auf den ersten Blick einen Kontrast zu den Bildern unberührter Natur. Doch was sie letztendlich verbindet, ist, dass beide, die Natur und die Ruinen, schon seit langer Zeit einfach brachliegen. Die fünf Jungs und das Mädchen hängen in diesen Kulissen ab, sie leben in den Tag hinein. Auch ihre Leben liegen – trotz ihrer Jugend – brach. Anna Eborn gelingt es, die Musik der Jugendlichen geschickt in ihren Film und mit der Erzählung selbst zu verweben. Mal unterstreichen die Lieder den unwirklichen Stillstand in den Leben, mal spiegeln sie die Unruhe und den Unmut der Gruppe wider. Doch zu keinem Zeitpunkt übernehmen sie die Deutungshoheit über die Stimmung – die Lieder wirken so elementar wie die Probleme der Jugendlichen, da sie sich erst durch sie zu äussern scheinen. Es ist der Soundtrack ihrer Perspektivlosigkeit, der uns durch die Szenen begleitet.

In den Liedern geht es um unerwiderte Liebe, die Sehnsucht danach, gesehen zu werden, und den unerreichbaren Traum eines erfüllten Lebens. Was soll aus ihnen werden, wenn die einzige Möglichkeit, die sich ihnen bietet, der Weg ins Ausland ist? Tanyas kleiner Bruder träumt von einer Karriere im Militär. Ein kleiner filmischer Exkurs gibt einen Einblick in verstaubte sozialistische Rituale der transnistrischen Rekrutenschulen. Nur hier wird das glorreiche Vaterland noch besungen. Auf der Bühne werden kleine Helden mit Abzeichen gekürt, während im Publikum nur die sitzen, die es nicht geschafft haben, zu gehen, oder die noch zu jung dafür sind. Tanya selbst ist auf dem Absprung. Eborn bleibt in dem kleinen Ort und widersteht der Versuchung, mit ihrer Kamera Gerüchten um einzelne Gruppenmitglieder zu folgen. Einer hat sich einer kriminellen Bande angeschlossen, der andere hat einen Streit bis zum Verrat am Freund getrieben, den er noch aus dem Kindergarten kannte. Die Gruppe schrumpft. Die Regisseurin richtet ihre Kamera auf die Verbleibenden. Sie folgt wie gewohnt ihren Gesprächen, die sie im Freien führen, und zeigt uns, wie die kurzen Momente gemeinsamer Ausgelassenheit zunehmend von nüchternen Erkenntnissen durchbrochen werden: «That’s life. It’s not us, it’s life.» In ihrer Realität, die uns der Film so eindrücklich nahebringt, scheint das Einzige, was zählt, das «Jetzt» zu sein, indem sie sich gemeinsam wiederfinden und sich Halt geben.

Transnistra führt uns langsam an das Gefühl der Resignation und der Beklommenheit heran, ohne sich dabei an Klischees zu bedienen. Durch die Konzentration auf die Gespräche in der Freizeit, die Musik und die ruhige Bildführung entzieht Eborn sich einem rohen Sozialrealismus, was in Anbetracht der vorgefundenen Verhältnisse eine grosse Leistung ist. Der Film zeugt auch von Empathie und der Bereitschaft der Regisseurin, sich von eurozentristischen Narrativen zu lösen. Nichtsdestotrotz bleibt es ein Dokumentarfilm, der es seinen Betrachtern abverlangt, sich auf bescheidene Verhältnisse und einfache Menschen einzulassen, die sich weit weg von uns befinden, in einem Land, das es eigentlich gar nicht gibt.

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Transnistra | Film | Anna Eborn | SW-DK-BE 2019 | 93’ | Visions du Réel Nyon 2019

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First published: April 22, 2019