To the West, in Zapata
«To the West, in Zapata» handelt von Liebe, Bürde und grosser Entbehrung in einem von der Welt übersehenen Teil Kubas. Mit seiner erstaunlichen narrativen Kraft und einer sorgfältig komponierten Schwarzweissästhetik zählt er zu den grossen Entdeckungen dieses Jahr in Nyon.
[…] Er bleibt ihnen in einer Ethik der Nähe und Beobachtung respektvoll zugeneigt. Dadurch und durch die immersive Kraft seiner poetischen Bildsprache gelingt es ihm, der voyeuristischen Gefahr zu entgehen.
Text: Dan Mueller

Der kubanische Filmemacher David Bim erzählt in seinem neuen Film, der dieses Jahr bei Visions du Réel Weltpremiere feierte, die Geschichte von Landi, Mercedes und ihrem autistischen Sohn Deinis, die auf der Halbinsel Zapata in grosser Armut leben. Während Landi tief in den Sümpfen Krokodile wildert, um die Familie zu ernähren, kümmert sich Mercedes um das gemeinsame Kind. Die Momente zu dritt sind kurz und kostbar, zu oft und zu lange muss Landi in die Sümpfe, um zu jagen. Der Weg dorthin ist weit und mühsam, dauert bis zu zwei Tage. Nachrichten aus Fernsehen und Radio, die in das Geschehen hereinbrechen, als würden sie aus einer anderen Welt kommen, betten die Erzählung gesellschaftspolitisch ein: Kuba während der Covidpandemie und inmitten heftiger Proteste gegen die Regierung aufgrund von Wirtschaftskrise, Medikamenten- und Nahrungsmittelknappheit. Der Staatspräsident beschwört den Geist der Revolution und macht die USA für die Unruhen verantwortlich. Der Film zeigt nicht, wie Mercedes und Landi zu den Protesten stehen, aber es ist klar, dass die Revolution sie vergessen hat.
To the West, in Zapata ist unterteilt in zwei Kapitel, benannt nach den beiden Protagonist:innen des Films. Während der erste Teil Landis einsames Leben in den Sümpfen zeigt, ist das zweite Kapitel über Mercedes nicht ausschliesslich aus ihrer Sicht erzählt, sondern vorwiegend bestimmt durch ihre Rolle im Familienverband. Darin gibt es Szenen, die aus der Sicht des Kindes Deinis und des für kurze Zeit nach Hause zurückgekehrten Landi erzählt werden. Es ist die einzige formale Inkonsequenz des Films, der manchmal der Eindruck erweckt, Landi in der Darstellung mehr Raum zu geben als Mercedes.
Die Geschichte entfaltet sich aus kontrastreichen, akribisch gestalteten Schwarzweissbildern, die in ihrer Schönheit eine hyperrealistische Kraft erzeugen und wie ein musikalischer Kontrapunkt zur realen sozialen Misere der Protagonist:innen funktionieren. Es sind Urgewalten, denen Landi in den Sümpfen ausgesetzt ist und mit denen er es wie eine Heldenfigur einer längst vergessenen Erzählung aufnimmt. Sinnbildlich dafür ist der Eingangs-Shot, in dem die Kamera Landi durch den Wald folgt, der die Last eines Krokodils auf seinem Rücken trägt. Wie Klagerufe klingen Tierlaute durch den Film, hohe Orgelpunkte im Sounddesign erzeugen Spannung, die sich nicht auflösen mag. Lange Einstellungen und weiche Lichtmodulationen ermöglichen einen Detailreichtum an der feinen Grenze zur Ästhetisierung, ohne diese jedoch zu überschreiten. Dadurch gelingt es dem Film, eine Unmittelbarkeit, eine Nähe zum Geschehen, eine visuell verankerte Verbindung zu den Protagonist:innen herzustellen. Der geschmeidige Lichtverlauf verstärkt die Plastizität der Objekte und Menschen; die Texturen der Gesichter, Körper, der Kleidung und Oberflächen werden in ihrer Materialität wahrnehmbar. Form und Inhalt korrespondieren: Jeder einzelne Muskel Landis ist bei der beschwerlichen Arbeit zu erkennen, denn Kraft und Geschicklichkeit sind schlicht notwendig für sein Überleben und dasjenige der Familie. Eine gröbere körperliche Verletzung hätte gravierende Konsequenzen. Nicht nur Landis Körper, auch die Objekte der alltäglichen Verrichtung bekommen ein Gewicht dadurch, dass sie existentiell sind, nicht ohne Weiteres ersetzt werden könnten, weil dafür schlicht keine Ressourcen vorhanden wären – ein dramaturgischer Spannungsbogen. Das kleine, batteriebetriebene Taschenradio verbindet ihn mit der Welt, das Foto von Mercedes und Deinis, das er abends rauchend im Zelt liegend betrachtet, erinnert ihn daran, warum er diesen Kampf mit den Urgewalten auf sich nimmt. Ohne die Machete, mit der Landi die gewilderten Krokodile ausnimmt, Holz hackt, um Stämme im Sumpf auszulegen oder Feuer zu machen, ohne das Fahrrad, das ihn zurück zu seiner Familie bringt, kann Überleben nicht gesichert werden. Alles benötigt Zeit in der Mühsal des täglichen Überlebenskampfes.
Landis Weg zurück aus den Sümpfen, Mercedes, die im Close-up geduldig mit ihrem Atem das Feuer entfacht, um kochen zu können – in den langen, präzise getimten Einstellungen, in der Dauer und im Rhythmus wird klar: Zeit ist beides, kostbar und quälend. Den intensivsten Moment des Films bildet ein etwa fünfzehn Minuten langer, atemberaubender Sequence-Shot, der Landi bei der Krokodiljagd zeigt. Er fängt das Tier mit einem Seil, wickelt es um einen aus dem Wasser ragenden Stamm, scheitert immer wieder daran, ihm mit einer Hand das Maul zuzubinden, während er mit der anderen das Boot stabilisiert, das wegzutreiben droht; fast vergisst man zu atmen, wenn das Krokodil sich zu befreien versucht und die Spannung immer unerträglicher wird, weil man sich wie in einem Spielfilm wünscht, dem Protagonisten möge nichts geschehen.
To the West, in Zapata verzichtet auf Voice-over-Stimmen, Interviews oder extradiegetische Musik. Doch in den Liedern, die die Protagonist:innen hören, ist Hoffnung. Wenn sie singt, kann Mercedes die tiefe soziale Misere für Augenblicke vergessen, in Musik tönt der Traum von einem besseren Leben. Es zählt zu den stärksten und berührendsten Szenen, als sie zu einem Liebeslied leise mitspricht, während sie sich die Nägel schneidet und die Kamera ihr Gesicht und ihre Hände in Nahaufnahme zeigt, im anderen Zimmer Deinis, der schreit und schreit. Sie hört ihn wohl, aber in diesem Moment ist sie ganz bei sich und für sich.
Sozialrealistische Dokumentarfilme, die vom Leben des Subproletariats in bitterer Armut erzählen, bergen die Gefahr des voyeuristischen Blicks von oben herab. Acht Jahre lang hat David Bim an diesem Film gearbeitet, ein Näheverhältnis zu seinen Protagonist:innen aufgebaut. Er bleibt ihnen in einer Ethik der Nähe und Beobachtung respektvoll zugeneigt. Dadurch und durch die immersive Kraft seiner poetischen Bildsprache gelingt es ihm, der voyeuristischen Gefahr zu entgehen. To the West, in Zapata zeigt drei Menschen in ihrer körperlichen und sozialen Verletzlichkeit, in Liebe und Sorge miteinander verbunden, im Kampf ums nackte Überleben in einer Welt, die sie vergessen hat.
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Dieser Artikel ist in Zusammenarbeit mit dem MA Kulturpublizistik ZHdK entstanden.
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Info
To the West, in Zapata | Film | David Bim | CUB-ES 2025 | 74’ | FIPRESCI Award and Special Jury Prize at Visions du Réel Nyon 2025
First published: April 18, 2025