The Village Next to Paradise

[…] Momenten der Zärtlichkeit und des Zusammenhalts verleiht Harawe eine eigene Wertigkeit, die neben der schroffen Realität eines Landes im Bürgerkrieg nicht verloren geht…

[…] In «The Village Next to Paradise» geht es nicht um eine besonders versöhnliche oder kämpferische Gegenerzählung zur medialen Darstellung Somalias. Im Zentrum des Films stehen drei paradigmatische Geschichten, die ein menschliches Spektrum abbilden wollen.

Der Rhythmus des Para-Paradieses

Irgendwo in Somalia, zwischen Meer und Stadt, liegt das Dorf Paradies. Seine Bewohner:innen sind einer bröckelnden Infrastruktur ausgesetzt, denn sowohl das Krankenhaus als auch die Schule sind auf Spenden angewiesen, die mit der Zeit versiegen. Das Leben im Dorf ist von stoischer Ruhe geprägt, denn was bedeutet die Katastrophe noch, wenn sie in Serie kommt? Die filmische Welt, die Mo Harawe in seinem Langfilmdebüt The Village Next to Paradise inszeniert, ist von einer Serialität der Katastrophen geprägt: Militarismus, Bürgerkrieg, Arbeitslosigkeit, paternalistische Strukturen, Umweltprobleme. Allerdings zieht der Film keinen skandalösen Wert daraus. Vielmehr besteht diese Welt aus einem Nebeneinander der Schicksale, das einen ausgewogenen Blick auf die Lebenswege einer lose zusammengehaltenen Familie dieses Dorfes erlaubt. Momenten der Zärtlichkeit und des Zusammenhalts verleiht Harawe eine eigene Wertigkeit, die neben der schroffen Realität eines Landes im Bürgerkrieg weder verloren geht noch affektheischend oder gar verkitscht eingesetzt wird.

Für dieses gleichwertige Nebeneinander findet The Village Next to Paradise einen langsamen, parataktischen Rhythmus. Wenige Szenen sind dynamisch oder multiperspektivisch aufgelöst. Was es zu sehen gilt, passt in einen Bildausschnitt. In den halb nahen Einstellungen des alleinerziehenden Vaters Mamargade, seiner in Scheidung lebenden Schwester Araweelo und des Halbwaisen Cigaal geriert sich der Film als Variante einer Passionsgeschichte. Mit grosser Demut begegnen die drei ihren jeweiligen Schicksalsschlägen, was sich in den ausgeklügelt komponierten und mit natürlichem Licht beleuchteten Tableaus – Tafelbilder im besten Sinne – ausdrückt. Selten arbeitet Harawe mit Gegenschüssen dieser Bilder, und jene Momente, in denen die Kamera eine vorsichtige Suchbewegung durch das Bild wagt, sind rar gesät. Dies sind mithin die emotionalsten Momente des Films; sie durchbrechen den existenziellen Realismus von The Village Next to Paradise auf beeindruckende Weise.

Mo Harawe sieht in seinem Geburtsland Somalia ein potenzielles Paradies, das stets zwischen den postkolonialen Herausforderungen durchscheint – eine Art Para-Paradies, das im Nebenan und im Dazwischen der politischen Realität existiert. Diese Herangehensweise findet sich bereits in Harawes Kurzfilm Life on the Horn (2020), der, mit leisen Bezügen zu Pedro Costas Fontainhas-Filmen, von den Folgen illegaler Giftmüllentsorgung vor der somalischen Küste erzählt. Auch hier erkundet Harawe eine schwierige Vater-Sohn-Dynamik in ökonomisch prekären Verhältnissen. 2020 feierte der Film seine Premiere in Locarno, was den Auftakt für weitere Festivalerfolge des Regisseurs bedeutete: der Kurzfilm Will My Parents Come to See Me (2022) sowie aktuell The Village Next to Paradise werden u. a. in Clermont-Ferrand, Sarajevo, Marrakesch und beim Deutschen sowie beim Österreichischen Filmpreis ausgezeichnet. Bereits die beiden Kurzfilme prägt eine ähnliche, wenn auch eigenständige Ästhetik, die auf einer präzisen Beobachtung von Machtstrukturen und habitualisierten Abläufen fusst. Sie sind weniger als Vorarbeiten zu The Village Next to Paradise als vielmehr als komplementäre Projekte zu sehen.

«Bessere Tage stehen uns bevor», sagt Araweelo gegen Ende des Films. Als Schneiderin sucht sie vergeblich nach einem Kredit, der es ihr ermöglichen würde, ein eigenes Geschäft zu eröffnen und bei ihrem Bruder auszuziehen. Sie sagt es auf eine Weise, die weder zynisch noch selbstaffirmierend wirkt. Ihre Worte werden zum Paratext der somalischen Geschichte, die zumeist von aussen erzählt wurde: aus einer seltsam bemitleidend-ausbeuterischen Perspektive des kolonialen Westens. Thematisch dreht sich diese Erzählung gern um Clans und Milizen, die zerrüttete Wirtschaft, Islamismus und – so viel Romantisierung muss sein – die karge Schönheit der Landschaft am Horn von Afrika. Araweelo fehlt es letztendlich an finanziellen Mitteln, um ihre eigene Geschichte als Gründerin auszuerzählen, auch weil sie ihr weniges Geld solidarisch einsetzt. Allerdings deutet sich an, dass sie ihre berufliche Selbstständigkeit letztlich ohne Hilfe von aussen gestalten kann.

Das grosse Glück von The Village Next to Paradise ist Mo Harawes Fähigkeit, von drei gleichberechtigten Schicksalen zu erzählen. Damit ist nicht nur die kunstvolle dramaturgische Verbindung der Charaktere gemeint, die im Ensemble so gut funktionieren wie als einzelne Fokuspunkte. Gleichberechtigt sind diese Schicksale auch in ihrer Form als dokumentarisch eingefärbte Geschichten im Nebeneinander der somalischen Zeitläufte. Zwar beginnt der Film mit einem US-amerikanischen Drohnenschlag gegen einen mutmasslichen Al-Shabaab-Terroristen und ist durchweg von der Lärmverschmutzung der Drohnen und Kampfjets geprägt, aber die Figuren und ihre Schicksale ordnen sich dieser globalen Erzählung nicht unter. Sie existieren daneben und dazwischen, zu ihren eigenen Bedingungen, eben in einer Art Para-Paradies, das nie so ganz präsent ist, aber trotzdem spürbar. The Village Next to Paradise geht es nicht um eine besonders versöhnliche oder kämpferische Gegenerzählung zur medialen Darstellung Somalias. Im Zentrum des Films stehen drei paradigmatische Geschichten, die ein menschliches Spektrum abbilden wollen und die spürbar werden lassen, was es bedeutet, zwischen einer mit Giftmüll verseuchten Küste und postkolonialen Kapitalverhältnissen der Stadt zu leben; in einem Dorf, das Paradies heisst und doch nur knapp danebenliegt.

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The Village Next to Paradise | Film | Mo Harawe | FR-AT-SOM 2024 | 133’ | CH-Distribution: Trigon Film

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First published: June 16, 2025