The Pink Cloud

[…] Damit ist «The Pink Cloud» nicht nur ein Gegenentwurf zum Weltuntergangs-Blockbuster, sondern auch eine auf den ersten Blick fast deckungsgleiche Analogie zur Lockdown-Realität der Covid-19-Pandemie.

[…] Kurzum, «The Pink Cloud» ist eine Kritik an der Mühelosigkeit, mit der ein neuer, freiheitsfeindlicher Faschismus (siehe die politische Situation in Brasilien) schnell zum new normal werden kann.

KARSTEN MUNT:

Eine pinke Wolke zwingt die Welt, Türen und Fenster zu schliessen. Die drohende Apokalypse, die daher rührt, dass jede Berührung mit der Wolke, die länger als zehn Sekunden dauert, zum Tod führt, übermannt die Welt nicht als spektakulärer Weltenbrand oder multiperspektivisch eingefangene und unaufhaltsame Kettenreaktion, sondern schickt sie einfach nach Hause. Wer überleben will, isoliert sich und versetzt sein Leben in Stillstand. Damit ist The Pink Cloud nicht nur ein Gegenentwurf zum Weltuntergangs-Blockbuster, sondern auch eine auf den ersten Blick fast deckungsgleiche Analogie zur Lockdown-Realität der Covid-19-Pandemie.

Dass sich der Film nicht als geradezu prophetische, weil bereits 2017 geschriebene und 2019 gedrehte Annäherung an die Lebensrealität einer Gesellschaft in virenverschuldeter Isolation verstehen will, erklärt eine Texttafel, die jegliche Parallelen zu tatsächlichen Ereignissen zufällig nennt. Tatsächlich ist Iuli Gerbases Spielfilmdebüt nur insofern Virenkino, als die plötzlich auftretende pinkfarbene Wolke den Status quo der diegetischen Welt überschreibt, um ihn mit einer neuen Normalität zu ersetzen. Anders als im bereits erwähnten Katastrophen-Blockbuster orientiert sich die neue Realität nicht an den Gesetzen eines Genres, sondern schafft vielmehr einen Versuchsaufbau innerhalb einer ansonsten völlig generisch wirkenden bürgerlichen Lebenswelt. Den Protagonistinnen fliegt also nicht ihre von der pinken Wolke heimgesuchte Welt um die Ohren, sie schrumpft vielmehr auf ihre wesentlichen Funktionen zusammen. Die Perspektive ist nicht epidemiologisch, sie ist individuell. Die globale Katastrophe findet zwischen zwei Personen innerhalb einer geräumigen Dachgeschoss-Maisonettewohnung statt. Das bourgeoise Gestell, auf das die Isolation gebaut ist, wendet die unmittelbare Lebensbedrohung des Ausnahmezustands zunächst problemlos ab. Die Welt kommt für die Protagonisten nicht in einem völlig undenkbaren Moment zum Stillstand, bedroht ihre Existenz nicht durch Ressourcenknappheit, Schutzlosigkeit oder sonstige widrige Umstände. Im Gegenteil: Die Wohnung ist komfortabel, und neben der Grundversorgung ist auch die finanzielle Zukunft gleich mit abgesichert. Der Weltuntergang oder -stillstand wird von Gerbase so weit entschärft, dass er als individuelles Problem taugt. Eine Liebesbeziehung wird von allen äusseren Einflüssen abgeschnitten: The Pink Cloud ist Liebe in vitro.

Der Versuch, eine Beziehung isoliert von ihrer Soziosphäre zu erzählen, ist notwendigerweise ein steriles Unterfangen. Als wolle sich der Film dagegen aufbäumen, macht er die Fenster zur Aussenwelt selbst zu sinnlichen Objekten. Scheiben und Bildschirme werden berührt, zärtlich und heissblütig anstelle der Menschen gestreichelt, die dahinter stehen. Wer nicht über das digitale oder tatsächliche Fenster in die eigene Welt geholt werden soll, kann mit der gleichen Methode verbannt werden. Yagos mittlerweile schwer an Demenz erkrankter Vater verschwindet, als er den eigenen Sohn nicht mehr erkennt, aus der regelmässigen Anrufroutine und ist damit für immer vergessen; Yagos Liebhaberin wird von Giovana zusammen mit dem WLAN-Kabel ausgestöpselt.

So rigide das Setting geometrisch ist, so flexibel ist es auf der Zeitleiste. Das zu Beginn frisch verliebte Paar wird immer wieder durch das elliptische Auf und Ab moderner Beziehungswelten gestossen. Giovana und Yago haben Sex, haben mehr Sex, beginnen sich zu langweilen, begegnen sich in Rollenspielen als Alter Egos, verzweifeln im Angesicht des pink verhangenen Horizonts, diskutieren die Möglichkeit, ein Kind zu kriegen, trennen sich, finden wieder zusammen, langweilen sich und beschliessen ein gemeinsames Leben, das jederzeit wieder in die Entfremdung abzurutschen droht. Der Katastrophenfall ist ein Stresstest, der nicht die Gesellschaft, sondern das Individuum langsam bis auf seinen Kern runterschleift. Yago ergibt sich in den Stillstand, gibt sich stoisch der Beziehung und der Wolke hin. Giovana sucht die Freiheit, zunächst in der Lockdown-, dann in der virtuellen Realität. Im rosafarbenen Schimmer der Endzeit umranken sich zwei Persönlichkeiten, geben einen Teil von sich selbst auf, um einen Teil des anderen aufzunehmen. Die Liebe in Zeiten der Wolke ist ein schmerzvoller und zugleich heilender Prozess, ein wunderschöner Albtraum in der Freiheit der Isolation.

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GIUSEPPE DI SALVATORE:

Die unerwartet prophetische Dimension von The Pink Cloud wirft die Frage auf: Was waren die Absichten unabhängig von der Pandemie? Eine interessante Frage, denn die Antwort könnte unsere Wahrnehmung des Films erhellen, welche ansonsten unweigerlich von der Erfahrung des Lockdowns beeinflusst wird. Nun, ich glaube, dass es Iuli Gerbase in erster Linie darum ging, die beunruhigende Fähigkeit der Menschen zu zeigen, sich an Lebensbedingungen anzupassen, in denen die Freiheit radikal eingeschränkt ist. Kurzum, The Pink Cloud ist eine Kritik an der Mühelosigkeit, mit der ein neuer, freiheitsfeindlicher Faschismus (siehe die politische Situation in Brasilien) schnell zum new normal werden kann. Aus diesem Grund sollte der Film heute nicht nur eine deskriptive Funktion (der Pandemie) haben, damit wir angehalten werden, uns noch mehr in Giovanas Position einzufühlen, eine Figur des Widerstandes gegen diese Anpassung an das new normal, da sie ihren Schwerpunkt in der Realität vor dem Lockdown klar festhält.

Obwohl die Dramaturgie des Films uns eigentlich auf Giovanas Seite stellt, versteht es Gerbase, auch die Motive von Yago, Figur der Anpassung, in ein gutes Licht zu rücken. Aber das wirkliche Schwindligwerden kommt für uns Zuschauer mit dem endgültigen Auftauchen ihres Kindes, Lino, insbesondere durch seine Perspektive, durch die die Realität, die seine Eltern vor dem Lockdown erlebt haben, nun eine rein virtuelle Realität ist. Die Anpassung des Kindes an das dauerhafte Eingeschlossensein zu Hause erregt bei ihm keine Besorgnis, denn eigentlich kennt seine Welt keine Alternativen. Lino ist die Figur des radikalen Relativismus, weil er uns vor Augen führt, wie das, was uns als gesunder Menschenverstand erscheint, zur armseligen Nostalgie für eine nicht wiederkehrende Vergangenheit werden kann. Das Schwindelgefühl in der kindlichen Perspektive wird für uns zum Alarmsignal: Wenn die Zeit des Freiheitsmords länger als eine Generation dauert, besteht die Gefahr, den eigentlichen Sinn der Freiheit selbst zu vergessen...


 

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The Pink Cloud | Film | Iuli Gerbase | BRA 2021 | 104‘ | Filmar en América latina Genève 2021

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First published: May 04, 2021