The Devil's Freedom

[…] Ohne jene Dinge auch nur in einer Einstellung bildlich darzustellen, hat González mit «The Devil's Freedom», eines der treffendsten und erschütterndsten Porträts der Gewalt an sich und deren zerstörerischen Wirkung auf die Gemeinschaft geschaffen. 

[…] Die Idee mit den Masken, die hier durchaus auch eine direkt unheimliche bis verstörende Wirkung entwickeln, als sie nicht zuletzt Terrorismus, Horrorfilme und Brandwunden evozieren, sei, so González, einem Albtraum von ihm entsprungen, und es erstaunt auch nicht, dass jene Idee, noch vor dem behandelten düsteren Sujet, am Anfang des Projektes stand. 

An seiner Oberfläche ist Everardo González' Dokumentarfilm The Devil's Freedom eine Aneinanderreihung von talking heads, die aus einer Opfer- oder Täterperspektive heraus ihre Erfahrungen als Betroffene im niemals endenden mexikanischen Drogenkrieg schildern. Wie Claude Lanzmanns Shoah, mit dem er jene Grundkonstruktion teilt, ist dies als Filmerfahrung relativ schwer erträglich, wenn auch hier um ein Vielfaches kürzer. Eine Mutter erzählt, wie sie vergeblich versuchte, das Leben ihrer Kinder zu retten, eine andere, wie sie in einem Massengrab den Körper ihres Sohnes an dessen Turnschuhen erkannte; zwei junge Mädchen erzählen, wie sie die Ermordung ihrer Mutter miterlebten. Auf der anderen Seite erzählen die (teilweise erschreckend jungen) Täter von ihren Motivationen – Macht, Ruhm, Zwang –, wie auch von der Empathie, die verschwindet, wenn man bereits eine gewisse Anzahl an Menschen ermordet hat. Einzig die Exekution von Kindern löst in ihnen noch so etwas wie eine moralische Reaktion aus. Die überlebenden Opfer und Zeugen wiederum schildern die Täter als genauso verängstigt und nervös wie ihre Opfer, als berauscht von Drogen, den freien Willen längst eingetauscht gegen einen gewissen Status im Drogenkartell, der sich über die Anzahl ermordeter Menschen definiert. Rache schwören sie trotzdem alle. Die Folter, nebst den Morden zentraler Modus Operandi der Banden (wie auch der Polizei), ist gerade deshalb so perfide, weil sie nicht nur den Körper angreift, sondern sich in die Seelen hineinfrisst – der Opfer, der Täter, der ganzen Gesellschaft. In den 75 Minuten, die der Film dankenswerterweise bloss dauert, entwirft der Film ein Porträt einer solchen Gesellschaft, in der die Gewalt allgegenwärtig zu nennen noch zu kurz greift, als sie auch die Vergangenheit und die Zukunft beherrscht; ein ewiger Kreislauf aus Gewalt, Trauma, Rache und neuer Gewalt. Ohne jene Dinge auch nur in einer Einstellung bildlich darzustellen, hat González mit The Devil's Freedom, eines der treffendsten und erschütterndsten Porträts der Gewalt an sich und deren zerstörerischen Wirkung auf die Gemeinschaft geschaffen. 

Weshalb ihm dies so gut gelingt, und weshalb sich dieser Film nicht einfach in eine ganze Reihe von Dokumentationen einordnen lässt, die zwar betroffen machen, Mitleid mit den betroffenen Personen auslösen, wie auch dysfunktionale Systeme offenlegen – jene Emotionen jedoch nur selten mit jener letzteren Ebene zu verknüpfen vermögen – den Affekt also abstrahieren und zu politisieren – liegt an einem einzigen, vergleichsweise einfachen formalen Mittel, das González hier auf eine gänzlich neuartige Weise einsetzt: Sämtliche der interviewten Personen tragen eine etwas krude zusammengenähte, hautfarbene Strumpfmaske, die einzig Mund, Nase, Ohren und Augen frei lässt, den Rest des Gesichts aber hinter den Masken verbirgt – also alles was in der Regel nicht nur eine Identifikation, sondern auch eine direkte Affektübertragung auf den Zuschauer ermöglicht. Die für die Personen – sowohl für die Opfer wie die Täter – wohl notwendige Anonymität, wird ob dieser Wirkung schon beinahe zum Nebeneffekt. Die Idee mit den Masken, die hier durchaus auch eine direkt unheimliche bis verstörende Wirkung entwickeln, als sie nicht zuletzt Terrorismus, Horrorfilme und Brandwunden evozieren, sei, so González, einem Albtraum von ihm entsprungen, und es erstaunt auch nicht, dass jene Idee, noch vor dem behandelten düsteren Sujet, am Anfang des Projektes stand. 

Die konkrete Funktion oder Funktionen, welche die Masken in diesem Film ausüben, ist äusserst schwierig zu beschreiben oder gar zu benennen. Zum einen entfernen sie von den Gesichtern ihrer jeweiligen Träger deren fürs Kino zentrale Eigenschaft als Affektträger. Dem Zuschauer wird keine Möglichkeit geboten, aus den Mikrobewegungen der Gesichtsmuskulatur Details herauszulesen, die ihm das, was die Figuren erzählen, einen konkreten Körper oder einer konkreten Person emotional zuordnen und in einer Art psychologischen Spiegelung die Emotionen der Figur selbst nachfühlen zu lassen und dadurch ansatzweise zu verarbeiten. All dies müsste hier allein über den Tonfall der erzählenden Stimme als auch über den Inhalt des Erzählten geschehen – was durch den kognitiven Aufwand, den dieser Prozess erfordert, einerseits anstrengend ist, andererseits jene Emotionen anders erleben lässt, als es im Kino sonst der Fall ist. Nebst der grossen Kinoleinwand, die ja stets nicht nur durch den Projektor, sondern auch durch jeden einzelnen Zuschauerblick be-projiziert wird (im Hinblick auf die Wechselwirkungen zwischen der Wahrnehmung des Zuschauers und dessen emotionaler Reaktion), kommen hier, ihrer Materialität wie auch ihres Bedeutungspotentials wegen, weitere kleine Projektionsflächen in der Form jener Masken hinzu, die all jene angesprochenen Faktoren und Affekte wie in einem Spiegelkabinett vervielfältigen. Die schliessliche Wirkung, soll das heissen, ist so komplex, als sie fast zwangsweise verschiedene bewusste und unbewusste kognitive Prozesse in Gang setzen muss – zu Fragen nach dem freien Willen; zur Funktion der Gewalt; zur eigenen Rolle in einer Gesellschaft, in der jeder gleichzeitig Opfer und Täter ist – Prozesse und Fragen, die zudem bei jedem Zuschauer verschieden sein werden. Nicht zuletzt deshalb eignet sich The Devil's Freedom wohl extrem gut als Gesprächs- oder Debattenanstoss – sowohl zu den von ihm behandelten Themen, als auch zur politischen Wirkung von filmischen Bildern. 

Um zum Schluss noch einmal zurück auf die Ebene des Filmes zu kommen, findet durch die Maskierung sämtlicher Protagonisten natürlich eine Art Gleichsetzung der verschiedenen Seiten statt. Opfer wie Täter sind Teil desselben zerstörerischen Systems, und alle haben als Menschen unsere Anteilnahme oder zumindest unser Verständnis verdient. Das ist das Gegenteil von Zynismus. Nichtsdestoweniger ist The Devil's Freedom ein zutiefst pessimistischer Film, der nicht nur keine Lösungsvorschläge anbietet, sondern schon die blosse Möglichkeit eines Auswegs aus den verschiedenen Zyklen der Gewalt zu verneinen scheint. In gewissen Momenten, wenn die Erzählungen der Opfer für diese selbst unerträglich werden, sieht man, wie sich der Stoff der Maske unter den Augenpartien zu nässen beginnt. Weil uns immer noch das zugehörige Gesicht fehlt, wirkt es, als ob die Leinwand selbst weinen würde. Und wenn in der letzten Einstellung des Films eine der Protagonistinnen – es ist die Mutter, die all ihre Söhne an den Drogenkrieg verloren hat – ihre Maske auszieht und direkt in die Kamera blickt, dann merken wir, dass die Masken nicht zuletzt auch zu unserem Schutz bestimmt waren, denn dieser Blick, der in unser Innerstes gerichtet zu sein scheint, ist ein Blick direkt aus der Hölle. 

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The Devil's Freedom | Film | Everardo González | MEX 2017 | 74' | Human Rights Film Festival Zurich 2017, FIFDH Genève 2018, Solothurner Filmtage 2019

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First published: December 18, 2017