Sedimente
[…] Mit «Sedimente» gelingt es Laura Coppens, die Komplexität der deutschen Geschichte mit der Biografie ihres Grossvaters zu einem dichten Ganzen zu verweben und ein bewegendes Werk über Erinnerung, Verantwortung und die leisen Spuren der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen, entstehen zu lassen.
Text: Gin Burri, Caroline Dettling

Der Dokumentarfilm Sedimente von Laura Coppens, der beim diesjährigen Visions du Réel seine Weltpremiere feierte und mit dem Special Jury Award ausgezeichnet wurde, ist mehr als ein filmisches Fenster in dunkle Zeiten. Sedimente ist ein intimes Porträt, das die persönlichen Verstrickungen sowohl mit dem Nationalsozialismus als auch mit der DDR erörtert – jene feinen, manchmal kaum wahrnehmbaren Ablagerungen der Vergangenheit, die in Biografien weiterwirken. Sedimente eben.
Die Filmemacherin und Sozialanthropologin Laura Coppens nähert sich dem jahrzehntelangen Schweigen ihres Grossvaters Hermann Günther Gerber mit grosser Behutsamkeit – sie will sein Schweigen nicht nur offenlegen, sondern sich zugleich tastend an seine Ränder bewegen, es befragen und vielleicht sogar erste Risse darin entstehen lassen. Über mehrere Jahre tritt Coppens mit ihrem Grossvater in einen Dialog, der sowohl Nähe als auch eine gewisse Verunsicherung offenbart. Spürbar wird, wie wichtig die Grossvater–Enkelin-Beziehung für beide ist – und doch spürt man auch, dass zwischen ihnen das Ungesagte schwelt: die Ereignisse aus Günthers Vergangenheit, über die in der Familie nicht gesprochen wurde. Er und, wie zu vermuten ist, auch die bereits verstorbene Grossmutter haben ihr Leben lang darüber geschwiegen und damit eine Lücke geschaffen, die in der generationsübergreifenden Beziehung klafft.
Erst durch das filmische Schaffen der Enkelin, Laura Coppens, wird Günther Gerber nachdenklich und beginnt zu hinterfragen, ob er sich in seinem Leben anders hätte verhalten können – oder vielmehr müssen. Eine klare Antwort auf diese Frage erhält er jedoch nicht, auch nicht, als er sie direkt von seiner Enkelin zu bekommen hofft: Zu verstrickt ist die emotionale Gemengelage zwischen persönlicher Nähe und kollektiver Verantwortung, zwischen gelebter Beziehung und gefühlter Schuld.
Laura Coppens bringt es am Ende in ihrem Abschiedsbrief an ihren Grossvater auf den Punkt – sie kann ihm ihre Perspektive auf die Dinge (auch) nicht vermitteln, weil sie in ihrer Dichte und Zersplitterung unaussprechlich bleibt. Sie macht deutlich, wie schwierig es ist, eine «richtige» Haltung zu finden – gerade im deutschen Diskurs, der oft im Täter/Opfer-Schemata verharrt und wenig Raum für die Aushandlungen und Nuancen lässt, die im Dazwischen liegen. Sedimente verweigert sich einfachen Urteilen und zeigt stattdessen, wie schmerzhaft und zugleich unabdingbar ein ehrlicher Blick auf die persönliche Vergangenheit ist, um aus ihr lernen zu können.
Das einst so aufgewühlte Leben von Günther Gerber scheint sich gegen dessen Ende, wo wir ihn kennenlernen, in eine Existenz aus Routinen und Einsamkeit zu verfestigen. Ein wiederkehrendes Ritual seines Alltags sind Fitnessübungen – eine Gewohnheit, die unwillkürlich Erinnerungen an den Körperkult und den Fitnesswahn während des Nationalsozialismus wachruft. Vorstellungen vom «gesunden Volkskörper» und von den wehrtüchtigen Bürger:innen hielten sich jedoch nicht nur im Nationalsozialismus, sondern setzten sich auch im Sozialismus der DDR fort – unter anderen Vorzeichen, aber mit ähnlichem Ziel: der Formung eines funktionstüchtigen Körpers im Dienst des Staates. Heute, am Ende von Günthers Lebensweg, wird die körperliche Ertüchtigung zum Versuch, dem eigenen Tod entgegenzuwirken – eine Art Prophylaxe, die wie ein stiller Kampf mit der (eigenen) Geschichte wirkt.
Diese unauflösliche Verbindung von Vergangenheit und persönlicher Geschichte bringt die deutsche Schriftstellerin Christa Wolf, die im Film an mehreren Stellen auftaucht, in Kindheitsmuster prägnant auf den Punkt bringt: «Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.» Diese Einsicht zieht sich wie ein Leitmotiv durch den Film.
Sedimente hätte angesichts der Ernsthaftigkeit seines Themas und der Schwere der historischen Vergangenheit ein hart zu verdauender Film werden können. Doch Laura Coppens gelingt es, in ihrem liebevoll gezeichneten Porträt ihres Grossvaters auch leichten, humorvollen Momenten Raum zu geben. Die charmanten Szenen mit Günther Gerber werden von einem eindringlichen Sounddesign, für welches Azadeh Zandieh verantwortlich zeichnet, getragen. Auf Musik wird verzichtet, dafür fahren gewisse Töne zu bestimmten Zeitpunkten im Film direkt ins Knochenmark. Die düsteren Taten der Vergangenheit sind nicht zu sehen und brauchen nicht erklärt zu werden, denn der Sound lässt die Wucht nachhallen, sodass Bilder obsolet sind.
Mit Sedimente gelingt es Laura Coppens, die Komplexität der deutschen Geschichte mit der Biografie ihres Grossvaters zu einem dichten Ganzen zu verweben und ein bewegendes Werk über Erinnerung, Verantwortung und die leisen Spuren der Vergangenheit, die bis in die Gegenwart reichen, entstehen zu lassen. Gerade in Zeiten des erstarkenden rechten Denkens in Deutschland und weltweit gewinnt der Film zusätzlich an Dringlichkeit: Sedimente fordert uns auf, das Schweigen über die Vergangenheit zu brechen – nicht zuletzt in den Familien –, um Geschichtsvergessenheit und demokratiefeindlichen Tendenzen etwas entgegenzusetzen.
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Info
Sedimente | Film | Laura Coppens | CH 2025 | 81’ | National Competition Jury Special Award at Visions du Réel 2025
First published: April 21, 2025