Screening the Deep | Matthias Wittmann
Anlässlich der Ausstellung «Julian Charrière. Midnight Zone» hat Matthias Wittmann im Museum Tinguely in Basel die Filmreihe «Screening the Deep – Unter Wasser im Film» kuratiert. Ein cineastischer Tauchgang in die Tiefen des Meeres und des bewegten Bildes. Giuseppe Di Salvatore hat mit Matthias Wittmann über die Ideen gesprochen, die hinter diesem faszinierenden filmischen Parcours stecken.
Matthias Wittmann im Gespräch
Giuseppe Di Salvatore (GDS): Julian Charrières Ausstellung Midnight Zone fokussiert auf die Welt unter Wasser. Gibt es in der Ausstellung einen spezifischen Aspekt, der dich inspiriert hat, deine Kuration zu entwickeln?
Matthias Wittmann (MW): Inspiriert hat mich insbesondere die 56-minütige 4K-Videoinstallation Julian Charrières mit dem Titel Midnight Zone – und hier vor allem ein Aspekt: Charrière liess für diesen Film seine kreisende Fresnel-Leuchtturm-Linse, die wiederum umkreist wird von einem Kameraauge (vermutlich einer ferngesteuerten Tauchdrohne), die Wassersäule der Clarion-Clipperton-Zone zwischen Hawaii und Mexico hinabsinken, ein besonders mineralreiches und deshalb sehr gefährdetes Tiefseegebiet. Man schwebt, taucht, kreiselt hinab in die Twilight Zone, dann in beginnende Midnight Zone, eine lichtlose Tiefseezone, die bei etwa 1000 m beginnt – und die zunächst einmal für all die Lebewesen, die dort unten leben, ein akustischer Raum und kein Seh-Raum ist, d. h., sich aus Sound, Signal, Klang, Geräusch zusammensetzt. So sie nicht selbst leuchten, verlassen sich Tiefseekreaturen selten auf Sichtverhältnisse. Wir, als Zuschauende vor der Leinwand, sind trotzdem versucht, uns den Tiefseeraum als optischen Raum zu erschliessen. Kamera und Lichtkegel, die in die Dunkelheit schneiden, helfen uns dabei. Wir beginnen, das Licht wie eine Motte (oder wie andere Fische) zu umkreisen. Suchen Orientierung, finden sie kurz, verlieren sie wieder. Vor allem erleben wir uns nicht als Zentrum dieses Ökosystems, sondern dezentriert: an der Peripherie. Und gleichzeitig erlebe ich mich dabei, wie ich in Zonen vordringe, eindringe, in denen ich eigentlich gar nichts verloren habe. Gerade deshalb möchte ich tiefer vordringen, mehr sehen.
GDS: Sich desorientiert fühlen und mehr sehen wollen, zwei Aspekte, die der Faszination für die Tiefsee eine Gestalt geben …
MW: Ja, das ist die höchst ambivalente Erfahrung, die ich dieser Installation verdanke: Ich erlebe mich im Tiefenrausch, erschrecke aber zugleich vor dieser Neugier, die etwas abgrundtief Kolonialistisches, Invasives, Expansives hat. Tiefenrausch wird zum Goldrausch. Immersion verwandelt sich in problematische Invasion. Das Licht der Fresnel-Linse wird zur warnenden (aber auch verführerischen) Sirene. Diese Drehtür zwischen Faszination und Unbehagen bzw. Erschrecken vor dem eigenen Wissensrausch war für mich eine ganz besondere Erfahrung. Sie half mir bei der Filmauswahl für die Themenabende, die ich dank der Einladung von Kurator Roland Wetzel und Co-Kuratorin Tabea Panizzi begleitend zur Ausstellung zusammenstellen durfte.
GDS: Die Welt unter Wasser war lange Zeit ein Reichtum des Ungesehenen. Als solche wurde sie zum Traumort des Kinos, das vom bislang Ungesehenen immer fasziniert war. Fühlst du auch persönlich, als Filmliebhaber, diese Faszination?
MW: Ganz im Sinne des Titels der Unterwasserfilmschau Screening the Deep – Unter Wasser im Film war ich vor allem im Kino unter Wasser – und nur einmal kurz auf Scuba-Tauchgang im Mittelmeer. Dass die Unterwasserwelt für uns heute vor allem ein visuelles Milieu ist, war im 18. Jahrhundert und auch noch im 19. Jahrhundert alles andere als selbstverständlich. Vor 1800 machte der unterseeische Raum auf den Menschen noch kaum einen Eindruck, das können wir uns heute kaum vorstellen: Das Meer war für den Menschen kein dreidimensionaler Tiefenraum, sondern Oberfläche. Im Unterschied zum teleskopischen Blick in den Weltraum verweigerte sich der submarine Raum einer optischen Erschliessung. Erst allmählich wurde die Unterwasserwelt mit medialen Mitteln (Aquarien, Foto, Film usw.) erschlossen.
Für mich ist der Unterwasserraum wohl deshalb so faszinierend, da er ein schwebendes, schwereloses Blicken, eine ganz besondere Raumästhetik und unvergleichliche, geradezu surreale oder subreale optische Erfahrungen ermöglicht. Unter Wasser brauchen wir keine Krankamera. Es handelt sich um ein faszinierendes Medium, mit einem Brechungsindex, mit Verschiebungen der Farbwahrnehmung, Verzerrungen, neuen Sichtbarkeits- und Unsichtbarkeitszonen. Dinge und Lebewesen erscheinen grösser, alles ist von Mikropartikeln erfüllt, vor allem die Lichtverhältnisse im Zusammenspiel mit Schattenzonen faszinieren mich.
Hans Hass, Unternehmen Xarifa
GDS: Faszination ist, was die zwei Pioniere des Unterwasserfilms teilen, Hans Hass und Jacques-Yves Cousteau. Du hast sie an den Anfang deiner Reihe von Screenings gesetzt.
MW: Charrières «drive», Licht in das Dunkel der Tiefsee zu bringen, half mir bei der Auswahl insbesondere der Filme für den ersten Themenabend mit dem Titel «Tauchgänge zwischen Science und Fiction», der den Pionieren des Unterwasserfilms und des Forschungstauchens gewidmet war: dem Franzosen Jacques-Yves Cousteau und dem Österreicher Hans Hass, der sich gerne als abenteuerlicher Tarzan der Weltmeere inszeniert hat, wobei seine Muse und Mermaid Lotte Hass – als Unterwassermodell, Beraterin, Mitakteurin und Mitfotografin – Mitgarantin seines Erfolgs war. Cousteau und Hass waren – wie Charrière auch – geradezu besessen davon, das Scheinwerferlicht zu den Korallen des Meeresgrundes zu bringen und die Diversität der Farben erstrahlen zu lassen, zu sehen in Filmen wie Unternehmen Xarifa (1954) und Le Monde du silence (1956). Es gibt einen Text von Cousteau, der «Wo das Blut grün fliesst» heisst. Worauf er anspielt, das sind die Farbverschiebungen unter Wasser. Mit zunehmender Tiefe verlieren sich die einzelnen Farbtöne in der Reihenfolge, wie sie im Regenbogen angeordnet sind (zumindest für das menschliche Auge). Schon in sechs bis zehn Metern werden die roten Bereiche des Sonnenlichts verschluckt. Wenn Fische rot sind, dann dient das also vor allem der Tarnung. Gegen das grelle Scheinwerferlicht von Hass und Cousteau konnte diese Technik der Camouflage natürlich nicht ankommen…
GDS: Bieten Hass und Cousteau auch zwei unterschiedliche Modelle, sich auf das Unbekannte, das Andere zu beziehen?
MW: Wenn man so will, dann beginnt der Orient der europäischen Orientalisten unter Wasser. Hass und Cousteau waren beide auf unterschiedliche Art koloniale Romantiker, Unterwasserorientalisten und «Frontieristen», die den privilegierten Zugang zu den Weltmeeren ja nicht zuletzt dem französischen, österreichisch-habsburgischen und grossdeutschen Kolonialismus verdankten. Für beide Pioniere war das Vordringen unter die Wasserlinie das Lüften eines Schleiers zu einer unbekannten Welt voller Wunder: ein Eintauchen in «unberührte, fremdartige, jungfräuliche Landschaften», wie es bei Hass heisst. Sie bildeten sich ein, in Paradiese einzudringen, die der Mensch noch nicht zu erobern vermochte. Heute wissen wir, dass alles, was der Mensch als Paradies bezeichnet, von ihm längst zerstört wurde (um frei nach Paul Theroux zu sprechen). Du hast allerdings vollkommen recht, wenn du bei Hass und Cousteau zwei unterschiedliche Modelle der Konstruktion von Alterität vermutest. Hass ging es um das Geheimnis im Sinne von secret (lat. secretum), das heisst um lösbare Rätsel und enthüllbare Geheimnisse, während es Cousteau letztendlich um das mysterium ging, um etwas, das verurteilt ist, das Andere zu bleiben. Hass wollte letztendlich beweisen, dass man unter Wasser dasselbe tun kann wie oberhalb der Wasserlinie: Sekt trinken, schönen Frauen nachstellen und sich an den Korallenriffen wie an der Warenwelt in den Schaufenstern der Wiener Kärntnerstrasse erfreuen. Der Hai war für Hass dazu da, zu beweisen, dass der Mensch – und vor allem Hass selbst, der grosse Haidompteur – imstande ist, sogar die wildeste, gefährlichste Kreatur zu bezähmen. Es ging darum, das Unähnliche zur Ähnlichkeit (mit dem Menschen) zu zwingen: Eindringen – Erobern – Erziehen.
Für Cousteau hingegen war der Hai das schlechthin Andere, das es zur Unähnlichkeit zu verdammen und bestialisch zu jagen gilt (zu sehen in Le Monde du silence). Was Victor Hugo mit dem Riesenkraken (pieuvre) gemacht hat, das veranstaltete Cousteau mit dem Hai: «Zwischen dem Menschen und dem Haifisch liegt ein tiefer Abgrund der Zeit. Dieser Fisch lebt immer noch im späten Mesozoicum, als die Felsen sich bildeten. Er hat sich in diesen dreihundert Millionen Jahren nur wenig verändert (…), er hat sich unzerstörbar erhalten. Dieser Todfeind bedurfte keiner Entwicklung», heisst es in Cousteaus Buch Schweigende Welt. In diesem Titel zeigt sich ein weiterer Exotismus Cousteaus (der nicht auf Hass zutrifft): Für den französischen Romantiker Cousteau waren die Tiefen der Ozeane eine Art Weltraum des Schweigens und des Schwebens: ein irdischer, unterirdischer outer space im inner space. Er nannte seine Taucher nicht ohne Grund Aquanauten. Wovon sich Cousteau überall begeistert gezeigt hat, das ist das Schweben, die Schwerelosigkeit, die Inversion der Schwerkraft durch den Auftrieb und die Balance zwischen Auftrieb, Herabsinken und permanentem Druckausgleich.
Jacques-Yves Cousteau, Le Monde du Silence
GDS: Filme unter Wasser mobilisieren Technologie und Wissenschaft in besonderer Weise. Sind Filme unter Wasser indirekt die Gelegenheit, Technologie auszustellen und vorzuführen?
MW: Grundsätzlich bedeutet wissenschaftliches Experimentieren immer auch: Visualisieren. Die Werkzeuge der Wissenschaft sind immer auch Werkzeuge des Spektakels. Und hier kommt die Technologie ins Spiel. Technologie ist ein Mittel der Produktion und Visualisierung von Wissen. Die Pioniere des Tauchforschens wie Hass und Cousteau waren vor allem auch Bilderjäger. Sie forschten, um Bilder zu erbeuten. Und umgekehrt verwendeten sie das Filmemachen als Vorwand, um ihre Forschung finanzieren zu können. Sie waren «Edutainer» – Erfinder des «Scientainment». Hass noch unverblümter als Cousteau. Er hat kein Geheimnis draus gemacht, dass das Filmen für ihn genauso wichtig war wie das Tauchen und Forschen. Das ging ja auch Hand in Hand: Mit den leichteren Atemgeräten wurden die Taucher wendiger und dadurch die Kamerafahrten rasanter. Hinzu kamen das Basteln von neuen Kameras (zum Beispiel mit Wechselobjektiven) und die Entfesselung dieser Kamera vom Unterwasser-Stativ.
Bemerkenswert ist, dass die frühen Unterwasserfilme zugleich ein «Making-of» dieser Filme sind. Die Herausforderungen des Filmemachens werden permanent thematisiert: Schärfenverlagerungen; Belichtungszeiten; die Kunst, nicht zu verwackeln; die Längen der Filmrollen (die die Dauer der Tauchgänge strukturieren); Lichtverhältnisse. Wie reagieren Kameras unter Druck? Was macht ein gelungenes Fischporträt aus? Auch das war damals nicht selbstverständlich. Im Unterschied dazu kaschieren die Wildlife Documentaries der Gegenwart die Präsenz der menschlichen Technologie gerne. Auch diesbezüglich waren Beispiele in der Filmschau zu sehen (Our Oceans bei Netflix, präsentiert von Barack Obama, etc.).
GDS: Wäre es also eine selbstkritische Alternative zu der reinen invasiven, kolonialistischen Einstellung, die Bedingungen des Filmens zu zeigen, sprich: das Making-of im Film zu integrieren?
MW: Tendenziell ja. Im Sinne einer Selbstaufklärung der Aufklärung. Das ist etwas, das ich in gegenwärtigen Naturfilmen tatsächlich vermisse. Die Ambivalenzen werden nicht verhandelt, sondern versteckt. Auch wenn gegenwärtige Dokumentationen – DokuVisionen – einen hohen Grad an Awareness hinsichtlich Klimawandel, Erderhitzung, Umweltverschmutzung, Schleppnetzfischerei etc. mitbringen, wird so getan, als wären der Mensch und seine Technik nicht mehr anwesend, ein bisschen so wie in der Doku-Fiction-Serie The Future Is Wild. Als ginge es darum, die Ökosysteme nur ein bisschen in Ruhe zu lassen, sich als Mensch zurückzuziehen – und die Natur würde sich und ihre Diversität schon von selbst regenerieren, retten. Dazu gehört eben auch, dass die Kameratechnologie, die ja eigentlich omnipräsent ist in den Filmen – man kann sich vorstellen, dass die Tiere regelrecht umstellt und verfolgt werden von Drohnen, Hyperspektralkameras, Deep Sea Drop Cams mit Ködern –, kein Thema mehr ist. Und das, würde ich sagen, ist schon auch der Trick von Propaganda überhaupt: dass sie auf scheinbare Unmittelbarkeit, immediacy, setzt. Anna Kornbluh würde vom melancholischen «style of too late capitalism» sprechen. Nach dem Motto: «Vielleicht ist es zu spät, aber gerade deshalb müssen wir die Diversität der Ozeane noch einmal archivieren und möglichst prächtig ausstellen.» Es ist also schon auch eine Art Errettungsethnografie 2.0, die hier im Spiel ist. Und letztendlich verdanken wir diese Effekte der Unmittelbarkeit – verbunden mit Tier-Point-of-Views usw. –, dem Eindringen und Immer-weiter-Vordringen und Immer-tiefer-Tauchen der menschlichen Technik. Was diese Filme aber völlig kaschieren, als ginge es um ein perfektes, spurenloses Verbrechen.
GDS: Im 20. Jahrhundert hat die Wissenschaft die Neutralität der Beobachtenden infrage gestellt. Die Beobachtenden intervenieren, manchmal zerstören sie das Habitat ihrer wissenschaftlichen Objekte. Das Filmen in tiefer See erlaubt uns, diese Feststellung zu bestätigen, da es sich "dort unten" geradezu bewahrheitet, dass Zeigen immer auch Zerstören ist. Sollten wir verzichten, die Tiefsee zu zeigen?
MW: Mehr wissen wollen bedeutet definitiv auch Zerstörung. Da gebe ich dir vollkommen recht. Das ist ein Dilemma. Deshalb bin ich der Meinung, dass wir in der Tiefsee ganz und gar nichts verloren haben. So rigoros das jetzt klingen mag. Ich schlafe schlecht, seit ich weiss, dass die Tiefsee unter dem Druck der Abbaulizenzen bald kein Recht mehr haben soll, Geheimnisse zu haben. Ich möchte mich hiermit für das Recht der Tiefseebewohner:innen auf Geheimnis aussprechen.
Lisa Rave, Europium
GDS: Verkörpert Lisa Raves Film Europium (2014) eine andere selbstkritische Alternative, da in ihrer filmischen Überlegung die Tiefsee eine Gelegenheit ist, etwas über die globale Embeddedness auf unserem Planeten zu lernen und ein komplexes Verständnis des sogenannten Anthropozäns zu gewinnen?
MW: Definitiv. Aus diesem Grund habe ich Lisa Raves Essayfilm auch gezeigt, der sich – geradezu spiralförmig – rund um das Element Europium entspinnt, ein fluoreszierendes Element, das für die Validierung respektive Authentifizierung von Banknoten verwendet wird, in unseren Flatscreens steckt, dort für hohe Auflösung und farbliche Brillanz sorgt – und mit einer geopolitischen Kolonialgeschichte des Tiefsee-Extraktivismus verbunden ist, die nach Neuguinea, in die Bismarcksee, führt. Rave macht genau das, was viele Wildlife Documentaries strategisch unterlassen: Sie nimmt die Blicktechnologien selbst in den Blick und zeigt uns, wie viel Extraktivismus, Geopolitik und Kolonialgeschichte in jener Technologie steckt, der wir unsere Schauwerte verdanken. Wir machen ästhetische Erfahrungen, weil es Extraktivismus gibt…
GDS: Angesichts all dieser kritischen Aspekte: Wie sollten wir die Rolle der Ästhetisierung betrachten, wenn es um screening the deep geht?
MW: Es stellt sich meines Erachtens immer noch die Frage nach einer Ethik der Ästhetisierung. Wie liesse sich eine Realität von Relationen zwischen Mensch und Tier – zum Beispiel den Tiefseekreaturen – herstellen, die zugleich ethisch und ästhetisch ist, d. h. auch: den Tieren ein Recht auf Differenz und radikale Alterität einräumt, ohne sie zu exotisieren, zu orientalisieren, zu alienisieren. Wir müssen schlicht und einfach Unähnlichkeiten nicht nur aushalten können, sondern auch pluralisieren. Wie liesse sich das Andere in seiner Andersartigkeit respektieren – ohne es allerdings zur Unähnlichkeit zu verdammen, sondern einen artenübergreifenden Spielraum der Verwandlung zu eröffnen. Darin läge für mich eine Ethik der Ästhetisierung. Christie Oliver-Hobley plädiert in seinem Vortrag «Towards an Animal-Inclusive Ethics/Aesthetics of Alterity» mit Elisa Aaltola für eine «aesthetic appreciation of alterity». In erster Linie sind Unterwasserlebewesen – vor allem wenn sie eine ganz und gar nicht menschliche Gestalt und vielleicht sogar weder Gesicht noch Augen haben – für uns eine verstörende, manchmal genussvolle, oft überraschende ästhetische Erfahrung, eine reizende Oberfläche. Doch gerade weil die wandlungsfähige Körperoberfläche zum Beispiel eines Oktopus eine Trennung von Ästhetik und Subjektivität unmöglich macht, beginnen wir in der ästhetischen Wertschätzung dieser Gestaltwandler auch eine bestimmte Form von Subjektivität zu schätzen. Ganz unabhängig davon, ob hier tatsächlich eine subjektive Innenseite zum Ausdruck kommt oder nicht. Diese Wertschätzung besteht nicht in Empathie, sondern in der Akzeptanz einer uns vollkommen unzugänglichen Alterität.
Jean Painlevé, La pieuvre
GDS: In deiner Reihe von Screenings gibst du gerade den Kraken und den Filmen von Jean Painlevé einen besonderen Platz. Findest du in der Spezifität der Kraken und in Painlevés filmischer Beziehung mit ihnen die Möglichkeit, auf eine andere Art und Weise unter Wasser zu filmen?
MW: Painlevés Filme (zum Beispiel Les Amours de la pieuvre oder L’Hippocampe) sind erstaunlich frisch geblieben – und ich frage mich oft, woran das liegt. Es handelt sich für mich vor allem um eine bestimmte Art und Weise, Mensch und Tier in ein Verhältnis zu setzen. Die Formen, die der Erfinder, Techniktüftler und surrealistische Antifaschist Painlevé zusammen mit seiner Lebensgefährtin Geneviève Hamon gefunden hat, sind auch Koproduktionen zwischen Mensch, Tier und der Mise en Scène des Aquariums. Es handelt sich um ein Grenzgängertum zwischen Science und Fiction, Erfundenem und Erfahrenem, Gegebenem und Imaginiertem. Ich würde sagen, dass Painlevé die Unterwassertiere – vor allem den Oktopus und die Seepferdchen – weder völlig vermenschlicht noch ganz entmenschlicht hat, sondern eher gefragt hat: Wer verwandelt wen? Wer beobachtet wen? Um auf dieser Grundlage eine Schule der Metamorphosen zu entwickeln, im Zuge derer die Tiere weder zur Ähnlichkeit gezwungen noch vollkommen als das ganz Andere des Menschen, als Aliens exotisiert wurden. Painlevé ging es darum, Kompositkörper aus Menschen- und Krakenteilen zu montieren und im Durchgang durch die Fremdheit nach neuen Verwandtschaften, Ähnlichkeiten, Beziehungsweisen zu suchen, ganz nach dem Vorbild des surrealistischen Spiels mit gefaltetem Papier, Cadavre Exquis. Mensch und Tier sind keineswegs durch einen Abgrund getrennt, aber doch durch einen Abstand, der neue, artenübergreifende Verbindungen ermöglicht. Mensch und Tier sind Teil derselben Koevolution – «Also macht euch verwandt», würde Donna Haraway sagen. Die Kontakte und die Verbundenheit, die wir mit Tieren herstellen, sind nicht stabil, sondern vulnerabel und ständig in Gefahr, abzureissen.
GDS: Was wäre für dich ein «krakenhafter» Film?
MW: Kein Film ist so gestisch, stumm und farbenschillernd, so bewegtbildhaft und aperspektivisch – zentriert und dezentriert zugleich – wie die vielzüngige, vielgerichtete Pantomime des Kraken, dieser unabschliessbaren Gestalt voller Lücken und Zwischenräume. Für uns ist der Krake, der Oktopus vor allem ein Schauspiel und Spektakel. Im hypererregten Krakenkörper tauschen sich taktile, chemische, visuelle Daten etc. in komplexer Weise aus, wobei die angesaugten Daten für uns immer auch bildförmig bleiben. «Datensaugen» ist hier nicht metaphorisch gemeint, Kraken sind auch jenseits unserer Rede von der «Datenkrake» smarte Wesen, bestückt mit hochrezeptiven Sensoren, die registrieren, reflektieren, prozessieren. Vielleicht also ist das Kinoauge eher ein Kraken- als ein Kameraauge, wenn es um ein spezifisch verkörpertes, anderes Sehen geht.
Mein «Oktopia» (übrigens auch der Titel eines Krakenbüchleins von mir) ist dort, wo das Kino einmal nicht vom Ätna, sondern vom verletzbaren Krakentemperament her betrachtbar wird, ganz ohne Epstein’schen Vitalismus (übrigens kommt am Ende von Rosselinis Stromboli ein gefangener Pulpo vor). Der Vielfüsser (Polypous) wurde schon in der Antike mit einem Netz aus tausend Augen verglichen. Und wenn Jean Rouch, der in meinem Oktopia zumindest subkutan immer wieder seine Tentakel im Spiel hat, mit Dsiga Wertow und Karl Marx schrieb, dass sich die «Kino-Augen aller Länder vereinigen» mögen, dann ist die Gesellschaft der Tentakel für mich dieser nicht paranoide, nicht monokulare, auch mehr als nur stereoskopische Ort der Verschränkung von taktilen Visionen, die zerstreut sind, aber trotzdem eine ungeheure Kohäsivkraft aufbringen können. Das wäre mein perfekter Krakenfilm. Ich habe ihn noch nicht gefunden.
Jakub Kouril, The Little Cousteau
GDS: Mindestens in der Reihe von Screening im Tinguely Museum habe ich gedacht, dass Jakub Kourils Animationsfilm The Little Cousteau (2013) für sein konstantes Austauschen von Innen und Aussen, Realem und Imaginärem, Kleinem und Grossem, Vergangenem und Anwesendem besonders krakenhaft ist…
MW: Ja, vielleicht ist Kourils Film der «krakenhaftste» von allen Filmen, die ich in dieser Reihe von Screening gezeigt habe. Doch ist Oktopia für mich nie dort, wo wir das gerne hätten. Und hier wird es für mich besonders interessant: nicht nur zu fragen, inwiefern der Krake ein «kinematografisches Hyperobjekt» ist, sondern nach dem Überschuss zu suchen, der an der Krakenakrobatik nicht kinematografisierbar ist. Oder zu fragen, worin der Krake dem Kino immer schon weit voraus war, schliesslich ist die digitale Technik des Morphing in der Kulturgeschichte der Cephalopoden, dieser Fakes aus der Tiefe (Deep Fakes), schon lange eine wohl etablierte Körpertechnik. Wer verwandelt wen? Das Kino nur den Kraken? Nein, auch der Krake das Kino.
GDS: Einer von den letzten Filmen in deiner Reihe ist Cláudia Varejãos Ama-San, wo relativ wenige Bilder unter Wasser gezeigt werden und die Welt unter Wasser vor allem durch menschliche Details und soziale Beziehungen ausgedrückt wird. Ist die Innerlichkeit – wie im Titel des letzten Screening erwähnt – und/oder das Soziale der Ort, um eine utopische Organizität mit der Welt unter Wasser zu erleben?
MW: Ich habe erst durch Varejãos wunderbaren und ethnografisch hochsensiblen Film verstanden, was es heissen könnte, dass wir aus dem Wasser kommen und – individuell wie evolutionsbiologisch – aus Wasser bestehen. Für die Ama-San, die japanischen «Frauen des Meeres», die noch in hohem Alter, ohne Atemgeräte, in meditativen Rhythmen nach Muscheln tauchen und eine alte Tradition fortführen, wird das Freitauchen zu einem fait social total, würde Marcel Mauss sagen: zu einem Phänomen und einer Beziehungsweise, die alle gesellschaftlichen Bereiche (politische, familiäre, religiöse etc.) wie ein Scharnier verbindet. Auch wenn wir kein Meer und keine Tauchgänge sehen – wie du auch festgestellt hast, gibt es nur wenige Unterwasserszenen –, sehen und hören wir alles in Bezug auf das Meer und die Kulturtechnik des Apnoetauchens: den Regen, die Rituale, die Gebete, die Gesten, die Gesichtsauflagetücher, die Badewannenszenen. Wir beginnen zu ahnen, was es heissen könnte, die eigene Existenz als Realität von (tentakulären) Relationen zu begreifen, die sich rund um den Ozean – als inner outer space – entspinnen und garnen.
GDS: Vielen Dank, Matthias.