Sanctorum

[…] Die dichte Wolkenschicht, welche die Berggipfel ununterbrochen umgibt, ist eine Mauer. Sie trennt oben und unten, Gewalt und Hoffnung, die Natur und ihr Ende.

[…] «Sanctorum» schliesslich entwirft durch seine naturmythologischen Anspielungen eine Art ultimative Makroperspektive. Die Gewalt wird als zyklische Katastrophe begriffen, deren Ende auch das Ende der Welt sein muss.

Was, wenn sich die Götter tatsächlich für uns interessieren würden? Was würden sie dem kleinen Jungen antworten, der im Wald nach seiner Mutter schreit? Die Mutter, die wie Tausende andere im mexikanischen Drogenkrieg ihr Leben verloren hat. Hätten sie irgendwann genug gesehen und würden dem Spuk namens Menschheit ein feuriges Ende bereiten? Gäbe es noch eine letzte Warnung? Glocken etwa, die vom Berggipfel her klingen? Würden sich die alten Leute am Tisch ruhig darüber unterhalten, dass bald das Ende kommt? Als ob die Apokalypse auch nicht viel schlimmer wäre als die Gegenwart.

Joshua Gils Sanctorum ist eine originelle, wenn auch durchaus naive, aber dadurch umso eindringlichere Fantasie um einen möglichen Ausweg aus diesem Krieg. Es geht um die endlose Gewalt, welche die Drogenwirtschaft und deren Bekämpfung seit Jahrzehnten in Mexiko mit sich bringt. Und da weder die Leute aufhören werden, Drogen zu konsumieren, noch eine fortschrittliche Regierung diese für legal erklären wird, ist kein Ende dieser Gewalt in Sicht. Es ist einfacher, sich den Weltuntergang vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, heisst es, und diese Dinge sind wie alles miteinander verbunden. Die Frage, warum gerade jetzt genug, warum gerade dieses Opfer eines zu viel sein soll, ist irrelevant. Aus der Sicht der Götter existiert die Zeit sowieso nicht.

Die dichte Wolkenschicht, welche die Berggipfel ununterbrochen umgibt, ist eine Mauer. Sie trennt oben und unten, Gewalt und Hoffnung, die Natur und ihr Ende. Für die Unteren ist von den Oberen keine Hilfe zu erwarten, die den genauen Blick nach unten lieber vermeiden. Tun sie es doch einmal, wahren sie eine sichere Distanz. Die drei Autos, die nachts über eine Bergstrasse bis zu einer Lichtung fahren, erkennen sie nur dank deren hellen Scheinwerfern. Figuren steigen aus, die mehr Schatten als Menschen sind. Einige tragen Gewehre und schreien mit barschen Männerstimmen; die anderen haben keine Gewehre und schreien auch nicht. Das Mündungsfeuer sieht aus der Distanz kaum bedrohlich aus, wenn da nicht die leisen Knallgeräusche wären und die Schatten, die sich jetzt nicht mehr bewegen. Die ganze Szene ist so dunkel, dass das Feuer, das jetzt an der Stelle zu brennen beginnt, wo eben noch die reglosen Schatten lagen, in den Augen schmerzt, während sich die Autos, geführt von ihren Scheinwerfern, über die mäandrierende Strasse wieder von der Lichtung und unserem gottähnlichen Blick entfernen.

Es ist eines der Bilder von Sanctorum, die bleiben. Wie auch die Schreie des Jungen, der alleine im Wald nach seiner Mutter ruft. Andere Bilder, welche den Alltag des kleinen Dorfes und dessen Bewohner zeigen, verblassen recht schnell in der Erinnerung, was auch an der traumartigen Wiedergabe der Handlung liegt, die mythologisch aufgeladene Naturszenen mit schwer einzuordnenden Dialogszenen mischt, die den Film sperriger wirken lassen, als es sein müsste. Die Bilder, die funktionieren, tun das allerdings nachwirkend. Der Sternenhimmel, der den Film eröffnet und der am Ende auf die Erde stürzen wird, sieht aus wie jener bei Patricio Guzmán, der einer der Mentoren des Regisseurs war. Der Unterschied ist, dass dieser Himmel, wie auch die Berge und das Meer, bei Guzmán stets passiver Beobachter bleibt. Es rennen aber auch keine Kinder weinend durch Wälder, und die heidnischen Rituale sind Teil einer archäologisch vermittelten Vergangenheit, aus der keine Wirkung auf die Gegenwart mehr möglich ist.

In Sanctorum hingegen ist die Szenerie von rätselhaften Figuren mit furchterregenden Tiermasken bevölkert, die mutmasslich jene Götter darstellen, die angefleht werden, dem grossen Sterben Einhalt zu gebieten. Man befindet sich in den ausfransenden Randregionen des Landes, wo die Autoritäten noch etwas korrupter sind, die Drogengangs noch etwas brutaler, die Bevölkerung noch etwas hilfloser. Die Dorfbewohner sind Bauern, und Bauern pflanzen an, was wächst und ihnen jemand abkauft. Weil es sich dabei um Marihuana handelt, welches anzubauen immer noch kriminell ist, stehen Männer mit Kalaschnikows neben den Feldern. Den Dorfbewohnern bleibt gar nichts anderes übrig, als zwischen die horizontalen Fronten zwischen Drogengangs, Militärs und Polizei zu geraten. Die Flucht in die Vertikale liegt nahe.

Die Drogenkriege in Süd-, Mittel- und Nordamerika haben zahlreiche filmische Formen hervorgebracht. Serien wie Narcos behaupten Empörung, tun aber kaum mehr, als das Geschehen in narrativ nachvollziehbare Formen zu pressen und dadurch zu ästhetisieren. Der Werbeeffekt auf den Nachwuchs für die Kartelle ist dementsprechend hoch. Ciro Guerra und Cristina Gallegos Pajaros de verano (2018) war etwas interessanter, da er die gleiche Ästhetik mit einer komplett anderen Perspektive verknüpfte, am Ende aber auch auf nichts anderes als die alte Aufstieg-kommt-vor-dem-Fall-Geschichte kam. Am radikalsten, wenn auch gleichzeitig unerträglichsten ging wohl Everardo González’ La libertad del diablo (Devil’s Freedom, 2017) mit dem Thema um, indem er die Grenzen zwischen Opfer und Täter visuell mittels Masken verwischte und so, obwohl ausschliesslich aus Talking Heads bestehend, paradoxerweise einen genaueren Blick auf das ganze zerstörerische System zu werfen vermochte. Sanctorum schliesslich entwirft durch seine naturmythologischen Anspielungen eine Art ultimative Makroperspektive. Die Gewalt wird als zyklische Katastrophe begriffen, deren Ende auch das Ende der Welt sein muss. Auch wenn seine einzelnen Teile am Ende dann doch nicht ganz zusammenpassen, ist Joshua Gils Beitrag durch seine radikale Perspektivenverschiebung ein wertvoller Beitrag zu einem Thema, zu dem Genrekino und -serienproduktion schon seit einiger Zeit nicht mehr viel Hilfreiches eingefallen ist.

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Sanctorum | Film | Joshua Gil | MEX 2019 | 83’ | Black Movie Geneva 2020

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First published: January 31, 2020