Petit Frère
Text: Lukas Stern
Den Bogen, den Petit Frère beschreibt – am Anfang sehen wir eine blanke, weisse Malerleinwand; am Ende sehen wir sie bemalt mit sich überlagernden, bunten Pinselstrichen –, ist ein Bogen in die Abstraktion. Zwar ist die Leinwand (die des Malers und die des Kinos: Sie sind natürlich ein und dieselbe) nun mit Formen überzogen, aus der Tabula rasa wurde ein buntes Gemälde, aber dieses Bild ist nicht konkret, nicht figurativ. Dieser Bogen – von einer Einstellung am Anfang zu einer am Ende des Films – beschreibt womöglich am besten das dokumentarpraktische Verständnis des Regieduos Roberto Collío und Rodrigo Robledo: In ein Thema, ein Sujet vertieft man sich nicht, man zerfliesst vielmehr darin. Insofern wäre es auch falsch zu sagen, dass im Zentrum dieses Films der haitianische Einwanderer Wilner Petit-Frère steht, der an einer Tankstelle jobbt (immer nachts) und nebenbei an einer Broschüre (vielleicht auch an einem Magazin, ganz klar ist das nicht) für die haitianische Gemeinschaft in Chile arbeitet – mit Texten und Fotos über das Leben, die Vergangenheit, die Zukunft und die Identität einer Generation von Migranten. Mit assoziativen, nicht selten auch humorvollen Querverbindungen und dezentraler Linienführung zeichnet Petit Frère (er zeichnet buchstäblich) ein halb onirisches, halb visionäres Bild über den Einzelnen in einer Gemeinschaft von Migranten innerhalb der fremden chilenischen Gesellschaft. Ein Bild, das am Ende folgerichtig in eine Marslandschaft einmündet – in eine Art zivilisatorische Tabula rasa also.