Öndög

Auf einer nächtlichen Patrouillenfahrt entblösst das Scheinwerferlicht des Polizeiwagens plötzlich mitten in der mongolischen Steppe den leblosen Körper einer nackten Frau. Es könnte der Anfang eines absurden Krimis, eines Dramas oder auch einer derben Komödie sein, die der chinesische Regisseur Quan’an Wang in seinem Spielfilm Öndög (Mongolisch für «das Ei») in die menschenleere Landschaft setzt. Doch seine Erzählung bleibt erst einmal offen, sein Blick auf das Geschehen distanziert. Bis weit in die ersten Szene des Filmes hinein verbleibt Wang in der Supertotalen, ganz so, als suche auch das Objektiv noch seinen Fokus – die Erzählung ihre Protagonist*innen. In der Zwischenzeit erstrahlt bei Tagesanbruch die urzeitliche goldene Graslandschaft, über die einst Dinosaurier zogen, auf der Leinwand. Es eröffnet sich ein weiter, auf die Ewigkeit ausgelegter Raum. Auf dieser Bühne wirkt das Handeln der zu kleinen Figuren reduzierten Menschen nebensächlich, fast unbedeutend.

Von Weitem beobachten wir die Beamten, die unbeholfen versuchen, den Tatort zu sichern, und schliesslich entscheiden, den jüngsten Rekruten am Fundort zurückzulassen, bis sie am nächsten Tag mit dem Leichenwagen zurückkehren. Eine Hirtin, die – unter dem Namen «Dinosaurierin» bekannt – als Einzige in der Gegend ansässig ist, soll den 18-Jährigen mit ihrem Gewehr dabei unterstützen. Unaufgeregt reitet sie auf ihrem Kamel in das Bild, Wang führt seine Hauptprotagonistin sehr nüchtern und beiläufig ein. Das ungleiche Paar findet sich wenig später gemeinsam am Lagerfeuer wieder. Er ist unbewaffnet und für seine Sicherheit auf sie angewiesen, denn in der Dunkelheit kehrt die hungrige Wölfin zum Leichnam zurück. Die Kälte der Nacht lässt sie zusammenrücken; sie essen, reden und lachen, trinken und schlafen schliesslich miteinander. Noch während des unbeholfenen und doch eigentümlich intimen Aktes lädt die Jägerin hinter dem Rücken des jungen Polizisten ihr Gewehr, springt gleich danach auf und erlegt mit einem Schuss die sich an die Tote heranpirschende Wölfin.

Am nächsten Morgen trennen sich ihre Wege für immer, und doch gehen beide aus ihrer unerwarteten Begegnung verändert hervor. In seiner Männlichkeit bestärkt, kehrt der junge Polizist in den Kreis seiner Kollegen zurück und fasst den Mut, einer jungen Kollegin Avancen zu machen. Aus der zaghaften Annäherung entwickelt sich eine beflügelte erste Liebe unter sternenklarem Himmel. Die Jägerin hingegen kehrt in ihre Abgeschiedenheit zurück, doch soll auch sie fortan nicht mehr alleine bleiben. Die Dinosaurierin ist schwanger und fasst es, berührend arglos, als Fügung des Schicksals auf. Dieser Umstand hilft ihr, wieder Vertrauen zu ihrem einzigen menschlichen Weggefährten zu fassen, dessen Anwesenheit zur blossen Komplizenschaft in schwierigen Lebenslagen verkommen war. Regisseur Quan’an Wang machte sich, ohne ein Drehbuch geschrieben zu haben, an die Arbeiten zu seinem Film. Als Ausgangspunkt diente ihm jedoch ein wahrer Polizeivorfall, der sich in einer abgelegenen chinesischen Provinz abgespielt haben soll. Aus der Vorlage spinnt er eine Erzählung, die sich den üblichen Genrebezeichnungen entzieht, vielmehr schafft er daraus eine vielschichtige Sage. Öndög ist frei von überbordender Moral und folkloristisch verklärten Vorstellungen von Ursprünglichkeit. Quan’an Wang zeigt Menschen und Tiere als gleichwertige Teil des ewigen Kreislaufs von Leben und Tod, der bis in die Urzeit zurückreicht. Das fossile Dinosaurier-Ei, das die Frau von ihrem Weggefährten geschenkt bekommt, stellt somit keinen traurigen Abgesang auf das Ende einer Art dar, sondern bestätigt den eigenwilligen magischen Wandel, den das Leben auf der Erde seit jeher vollzieht.

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Öndög | Film | Quan’an Wang | MNG 2019 | 100’ | Black Movie Geneva 2020

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First published: January 23, 2020