Nikola Ilić | 1. Innerschweizer Filmpreis 2017
«[...] Man kann mit einem kleinen Film eine riesige Botschaft transportieren. [...] Kurzfilme sind für mich wie eine alternative Szene im Filmgeschäft. Ich glaube, sie werden ein ganzes Leben lang Teil von meinem Schaffen sein.»
«[...] Ein Dorf ist wie das Internet, alles ist verbunden. Nach einem Tag kennen dich alle. Jeder weiss, wenn der eine dem anderen eine Zwetschge gestohlen hat. Genau diesen Mikrokosmos mag ich so gerne.»
«[...] Genau, ich habe das sehr gern, ich nenne es Videofotografie. Tableaus, auf denen man sieht, wer die Protagonisten sind. Das habe ich immer wieder gemacht, auch schon in «Kanton Jugoslawien».
Text: Jacqueline Beck
Zentralschweizer Filmschaffen wird sichtbar (gefördert)
Filmproduktionen sind bekannterweise eine teure Angelegenheit. Und besonders herausfordernd ist die Situation für Filmschaffende abseits der breit geförderten Standorte Zürich, Bern und Romandie. Erst wenn die regionale Förderung rund 20% der Kosten deckt, können auch die Ressourcen des Bundesamtes für Kultur (BAK) oder der SRG SSR angezapft werden. So hielt es 2012 eine von den Zentralschweizer Kulturbeauftragten und dem Verein Film Zentralschweiz veranlasste Studie fest. Und weiter: Die Beiträge der Zentralschweizer Kantone bildeten mit insgesamt 57 Rappen pro Kopf im nationalen Vergleich das Schlusslicht.
Bei der Luzerner Albert Koechlin Stiftung ist dieser Befund auf offene Ohren gestossen: Sie will verhindern, dass Innerschweizer Filmschaffende abwandern, und vergibt am 4. März 2017 zum ersten Mal den mit insgesamt 600'000 Franken dotierten Innerschweizer Filmpreis. (Auch die Zentralschweizer Kantone haben ihre Beiträge seit 2014 auf rund 600'000 Franken erhöht). 12 Produktionen aus den Jahren 2015 und 2016 – vom Kinospielfilm Heidi bis zum kurzen Animationsfilm Die Brücke über den Fluss – werden ausgezeichnet, hinzu kommen zwei Spezialpreise für Schnitt und Sounddesign und ein Ehrenpreis für Erich Langjahr.
Einer der Preisträger, der sich über die verbesserten Rahmenbedingungen freuen darf, heisst Nikola Ilić. Seinen (bereits mehrfach) ausgezeichneten Kurzdokumentarfilm Rakijada konnte der in Luzern wohnhafte Regisseur und Kameramann unter anderem Dank des 2015 lancierten Innerschweizer Nachwuchs-Kurzfilmwettbewerbs realisieren. Dieser Ideenwettbewerb bildet den zweiten Teil des Engagements der Albert Koechlin Stiftung. Rakijada ist ein ebenso feinsinniges wie humorvolles Porträt eines Dorfes und seiner Bewohner im zentralen Hügelland Serbiens, die an einem alljährlich stattfindenden Trinkwettbewerb ihren scheinbar vom Fortschreiten der Zeit losgelösten Alltag unter den Tisch trinken.
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Interview mit Nikola Ilić
Nikola Ilić, welche Bedeutung hat für dich der Innerschweizer Filmpreis?
Ich finde es wunderbar, dass es in der Zentralschweiz endlich diese Förderung für uns Filmemacher gibt. Ich weiss noch nicht, wieviel Geld ich erhalten werde, aber es scheint genug zu sein! Ich gewinne dadurch die Freiheit, an meinen nächsten Projekten arbeiten zu können. Das ist eine grosse Ehre und eine wichtige Unterstützung zugleich.
Vor einem Jahr hattest du am Upcoming Lab der Solothurner Filmtage deine Projektidee für Rakijada mit Experten diskutieren können. Damals waren noch einige Fragen zum finanziellen und zeitlichen Budget offen, doch du wolltest das Projekt unbedingt realisieren. Weshalb war es dir so wichtig?
Die Filmemacherei ist für mich etwas sehr Persönliches. Wenn ich eine Idee habe, nimmt sie von mir Besitz. Wenn ich sie nicht weiterverfolgen kann, werde ich krank oder verrückt. Klar wäre es schön, wenn das Geld immer von Anfang an schon beisammen wäre. Aber ich kann nicht darauf warten, ich muss mit dem Flow gehen.
Konntest du Rakijada so umsetzen, wie du es geplant hattest?
Mein Grossvater hat stets gesagt: «Renne nie hinter Frauen und Bussen her!» Ich bin im letzten Jahr den Festivals nachgerannt. Das Filmfestival in Venedig war sehr interessiert, Rakijada als Premiere zu zeigen, und ich wollte diese Chance unbedingt packen. Aufgrund der Deadline war die Schnittarbeit sehr stressig. Ich habe gelernt, dass ich nie mehr hinter Festivaldeadlines herrennen sollte. Zudem hat sich das Thema weiterentwickelt, wurde mit den Protagonisten vielschichtiger, der Trinkwettkampf stand plötzlich nicht mehr im Zentrum. Auch während des Drehs gab es Probleme, es hat dauernd geregnet, und mein Kameramann hatte ein Burnout, ich musste ihn nach Hause schicken, was mir sehr schwer fiel. Aber jetzt ist der Film da, that’s it.
Welche Inputs konntest du vom Upcoming Lab mitnehmen?
Solothurn hat viel ausgelöst in meinem Kopf. Es klingt kitschig, aber es stellten sich mir wirklich die grossen Fragen: Wer bist du, was willst du erreichen in deinem Leben? Der Produzent Ivan Madeo meinte, es sei Zeit für einen Langfilm, ob ich sicher sei, dass ich nochmal einen Kurzfilm machen wolle. Dieser Clinch beschäftigt mich bis heute. Neben meinen Kurzfilmideen arbeite ich jetzt auch an einem langen Dok und ein zweiter ist in Entwicklung.
Siehst du deine Entwicklung vom Kurzfilm hin zum Langfilm, oder bleibt der Kurzfilm für dich als Kunstform spannend?
Ich denke, die Leute haben ein falsches Bild vom Kurzfilm. Man kann mit einem kleinen Film eine riesige Botschaft transportieren. Früher habe ich in Belgrad Hardcore gespielt, die Szene war sehr klein, aber es war mein Ding. Kurzfilme sind für mich wie eine alternative Szene im Filmgeschäft. Ich glaube, sie werden ein ganzes Leben lang Teil von meinem Schaffen sein.
Bei der Präsentation von Rakijada hast du gesagt, dass du an jenen Tagen die schlechtesten Aufnahmen gemacht hast, an denen du keinen Rakija getrunken hast. Wie würdest du dein Verhältnis zu den Protagonisten des Films beschreiben?
Ich habe viel von mir hergegeben, nicht nur meine Leber für das Schnapstrinken, sondern auch meine Geschichte. Man muss sich den Leuten öffnen. Klar, viele hatten dieses Vorurteil: Stadtkind, Belgrad. Doch mit der Zeit änderte sich das. Ein Dorf ist wie das Internet, alles ist verbunden. Nach einem Tag kennen dich alle. Jeder weiss, wenn der eine dem anderen eine Zwetschge gestohlen hat. Genau diesen Mikrokosmos mag ich so gerne. Ich könnte nicht leben da, aber ich gehe gerne hin, um Geschichten einzufangen. Ich finde, das Dorf ist die Vene des Landes, hier sieht man, wie ein Land funktioniert.
Deine Filme enthalten immer sehr schöne, humorvolle Momente. Wie entstehen sie?
Das ist das Schöne am Dokumentarfilmen – solche Dinge passieren. Der Typ mit dem Töff wusste gar nicht, dass ich filme. Ich habe gesagt, ich mache ein Tableau, schau in die Kamera, wie wenn ich ein Foto mache. Ich wollte ihn eine Minute lang aufnehmen. Er schaltete den Motor ein, plötzlich stieg Rauch auf, und der Töff war kaputt. Solche Dinge kann man nicht planen, sie werden einem geschenkt. Man muss nur mitmachen – wenn die eine Türe schliesst, geht man durch die andere hindurch.
Viele deiner Aufnahmen sind sehr fotografisch. Du gibst also entsprechende Regieanweisungen?
Genau, ich habe das sehr gern, ich nenne es Videofotografie. Tableaus, auf denen man sieht, wer die Protagonisten sind. Das habe ich immer wieder gemacht, auch schon in Kanton Jugoslawien. Vielleicht ist das ein Teil von meinen Stil, ich weiss es nicht. Ich suche mich immer noch. Viele Leute sagen: Hey, ich habe einen Film von dir gesehen und ihn sofort an deinem Stil erkannt. Ich kann das nicht so sagen, ich bin noch nicht angekommen.
Stil ist ja auch etwas, das sich entwickelt.
Genau, und ich bin immer noch jung. In Serbien sagt man: «Erst wenn deine Hosen abgewetzt sind, bist du jemand». Auch in der Filmemacherei muss man viel tun, um an diesen Punkt zu kommen.
Das eine ist der Stil, das andere die Haltung. Du streifst immer wieder heikle politische Themen, es geht um Fragen der Identität, um die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, um Spätfolgen des Krieges. Nimmst du automatisch eine eigene Haltung ein, oder bleibst du Beobachter?
Den Film selbst zeige ich als Beobachter, aber auf dem Set bin ich ein Teil des Ganzen. Ich kann nicht sagen: Das interessiert mich nicht. Ich bin da, werde in die Geschichte hineingezogen. Es ist nicht möglich, neutral zu bleiben. Ich bin kein Patriot – das Land, in dem ich geboren wurde, Jugoslawien, gibt es schon lange nicht mehr. Die Grenzen haben sich verschoben, nur Belgrad ist am selben Ort geblieben. Belgrad ist meine Stadt. Zu Serbien als Nation habe ich einen seltsamen Bezug – ich mag auch die Kroaten, die Mazedonier, die Bosnier. Ich kümmere mich nicht um die Rolle, die sie während des Kriegs gehabt haben. Das finde ich absurd. Die Leute auf dem Land jedoch sind verbittert, sie haben viel verloren, sind nie zur Versöhnung gekommen. Sie behaupten es zwar, aber es ist nicht wahr. Sie machen blöde Witze – und an Witzen erkennt man, wo jemand steht. Da halte ich mich ein bisschen zurück und sage: Weisst du, meine Meinung ist eine andere. Aber jedem das Seine. Patriotismus ist ok, solange er nicht ins Extreme geht.
Du warst am Bogoshorts Festival in Kolumbien an ein Panel zum Thema Aussöhnung nach dem Krieg eingeladen. Welche Rolle können Dokumentarfilme dabei spielen?
Versöhnung ist ein langer Prozess, zu dem ich als Filmemacher nur einen kleinen Beitrag leisten kann. Ich kann die Probleme auf einer anderen Ebene aufgreifen. Auf einem Zeitstrahl von 1 bis 10 setze ich vielleicht bei Punkt 4 oder 5 ein. Ich kann sagen, das ist passiert, denk darüber nach, sag deinen Kindern, dass Krieg scheisse ist, und dann machen wir weiter. In Serbien ist der Krieg bereits 20 Jahre her, aber die Vergangenheit ist noch immer sehr präsent, vor allem auf dem Land. Wer jemanden Nahestehendes verloren hat, kann häufig nicht loslassen. Diese Wunde ist sehr tief. Das kann niemand heilen. Aber die Kinder und Enkel haben eine Chance, diese Versöhnung zu erleben. Es liegt an uns, die Verbitterung nicht an unsere Kinder weiterzugeben.
Nun arbeitest du in Belgrad an zwei Langfilmprojekten. Wie sind die Ideen dazu entstanden?
Dida ist eine Geschichte über meine Familie, an der ich und meine Frau Corina bereits seit vier Jahren arbeiten. Damals hatten wir erfahren, dass meine Mama Krebs hat. Ich dachte, ich verliere sie, und wollte sie filmen – ich hatte zwar viele Fotos von ihr, aber keine Filmaufnahmen. Ich hätte nie gedacht, dass daraus ein Filmprojekt wird. Die Ärzte sagten, es bestehe keine Überlebenschance, doch ein Jahr später war der Krebs weg. Das ist die Magie des Lebens. Wir haben weitergefilmt, und in der Zwischenzeit ist meine Grossmutter gestorben. Jetzt ist meine Mutter zum ersten Mal in ihrem Leben allein. Sie ist etwas „slow in learning“, es gibt einen Fachbegriff dafür, ich weiss ihn nicht mehr – sie ist mental auf dem Stand einer Zwölfjährigen. Es wird im Film um die Frage gehen, was mit Menschen geschieht, die im Alter niemanden mehr haben. Meine Mama hat zwar mich, aber ich lebe tausende Kilometer entfernt, pendle zwischen der Schweiz und Serbien hin und her. Das sind universelle Themen. Der Film wird von Dschoint Ventschr produziert. Wir haben fast die gesamte Finanzierung beisammen, jetzt ist die Produktion noch abhängig vom Entscheid des BAK.
Und das zweite Projekt?
Das steht noch ganz am Anfang. Ich habe in der New York Times einen Artikel über einen Ex-Profi-Boxer gelesen, dessen Vater ein bekannter Ingenieur war, Dobrivoje Božić. Er hat in den 1920er-Jahren die Božić Zugbremse erfunden und ist damit sehr reich geworden. Doch die Kommunisten haben ihm nach dem Krieg alles weggenommen. Er musste fliehen, zuerst nach Kanada, dann in die USA. Da ist mein Protagonist Bob geboren. Er ist auf der Strasse aufgewachsen, hat Banken ausgeraubt, ein wahnsinniger Typ. Der Artikel hat mich so hineingezogen, dass ich dachte, ich muss diesen Bob treffen. Ich las, dass er inzwischen zurück nach Belgrad gezogen ist, seine Familie hat noch eine Villa dort. Ich bin jeden Tag hingegangen und habe am Tor geklingelt, habe versucht, ihn über E-Mail und Facebook zu erreichen – doch es gab keine Reaktion. Am letzten Tag vor meiner Abreise stand er plötzlich vor meiner Türe. Ich war wie erstarrt.
Weshalb tauchte er plötzlich auf?
Er sagte, er sei gekommen, um mit seinem Vater zu sprechen, der in diesem Haus gestorben sei. Ich habe ihn hereingebeten, einen Schnaps mit ihm getrunken, und dann sind wir zusammen von Türe zu Türe gezogen. Ich habe die Kamera mitgenommen, und wir haben tatsächlich die Wohnung und das Zimmer gefunden, in dem Bobs Vater ohne Geld gestorben ist. Er hatte in Belgrad Immobilienbesitz im Wert von über 30 Millionen Euro, doch alles ist verstaatlicht worden. Das Thema der sogenannten Restitution – der Rückvergütung von Vermögenswerten an ihre enteigneten Besitzer – beschäftigt mich sehr. Das Ganze ist sehr politisch, es gibt viele Verstrickungen. Aber das Thema ist mir vor die Füsse gefallen, ich muss es einfach weiterverfolgen. Corina und ich werden im Mai das Drehbuch schreiben.
Du realisiert beide Projekte zusammen mit deiner Frau Corina Schwingruber, die ebenfalls Filmemacherin ist.
Ich bin so besessen von meinen Themen, dass ich ständig zuhause darüber spreche. Ich habe mal versprochen, dass ich das nicht mehr tue, aber ich schaffe es nicht. Deshalb haben wir entschieden, dass wir zusammenarbeiten. Corina ist so sehr Teil meines Lebens und dieser Geschichten, dass wir gegen die Zentrifugalkraft ankämpfen müssten, wenn sie sich nicht beteiligen würde. Wir sind ein gutes Team.
Wie funktioniert ihr als Team?
Der erste Versuch war schlimm, danach ging es besser. Ich mache das Visuelle, die Kamera, bringe die Protagonisten und die Geschichten. Corina schreibt das Drehbuch und macht den Schnitt. Wir versuchen, einander möglichst wenig dreinzureden.
Ich stelle es mir anspruchsvoll vor, an mehreren Projekten gleichzeitig zu arbeiten. Hinzu kommen Aufträge, die du als Kameramann ausführst, und deine Reisen an Festivals weltweit. Wie kriegst du alles auf die Reihe?
Es ist schon sehr stressig. Aber damit nach der Fertigstellung eines Films kein finanzielles Loch entsteht, ist es gut, schon vorher mit dem Fundraising für ein nächstes Projekt zu beginnen. Es kann jeweils mehrere Jahre dauern, bis die Finanzierung eines Films gesichert ist. Momentan verbringe ich viel Zeit in Belgrad, weil ich das Gefühl habe, das etwas passieren wird da unten. Ich werde mit Bob unterwegs sein, aber auch meine Mutter besuchen, und beides filmen. Es ist viel und ich weiss nicht, wie clever es ist – ich mach es einfach.
Was treibt dich an?
Ich muss diese Geschichten erzählen, der Welt mitteilen. Wenn ich das nicht tun kann, bleiben sie in mir drin, und es gäbe keine Reaktion darauf, keine kreative Kritik. Gerade beim Film über meine Mutter bin ich sehr unsicher, wie er nach aussen wirkt. Ich gebe alles preis, zeige meine Familie, meine Gefühle, es ist nichts gespielt. Das fordert mich wirklich heraus. Ich lerne unglaublich viel durch diese Filmemacherei! Mein grosser Traum wäre es, meine Mutter mit auf die Bühne zu nehmen, wenn ich den Film präsentiere. Ich möchte, dass sie das erlebt, dass sie sich als Star fühlt.
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Porträt von Nikola Ilić am Upcoming Lab der Solothurner Filmtage 2016 im Migros-Kulturprozent-Magazin
Info
Rakijada | Film | Nikola Ilić | CH 2016 | 19’
1. Innerschweizer Filmpreis 2017: Website
First published: March 02, 2017